Wundertüte

MichaMahrt

by MichaMahrt

Story

10 Pfennig haben sie gekostet, diese Überraschungstütchen meiner Kindheit. Sie lagen im untersten Regal des Kaufmanns unseres Dorfes. Von außen war nicht erkennbar, was sie bargen. Wir gingen in die Hocke, tasteten die Tütchen ab, entschieden uns, kauften je eines, verließen den Laden.

Auf einer Parkbank rissen wir die Tütchen auf. Die Naschsachen verschwanden zwischen den Zähnen, waren schnell Geschichte. Der Plastikkram entsprach selten unseren Vorstellungen. Vermutlich bildeten diese kleinen Figürchen und Perlen einen Beitrag zu den wachsenden Müllbergen, die damals noch – ohne energetische Nutzung – in Müllverbrennungsanlagen entsorgt wurden. Aber darum ginge es natürlich nicht, für uns ging es um die Neugierde, die für Kinder etwas Wunderbares ist. Für die Hersteller ging es um Gewinn, so funktionieren Unternehmen, das ist keine Kritik. Gibt es heute noch Wundertüten? Ich weiß es nicht, will es auch nicht so genau wissen. Es war in jedem Fall durch Neugier getrieben ausgegebenes Geld, das nichts anderes war als eine Fehlinvestition. Daraus habe ich gelernt. Heute kaufe ich gerne Dinge, die ich langfristig nutzen kann.

Heute gibt es Überraschungseier, die haben zumindest eine Hülle aus zuckersüßer Schokolade. In Feinherb gibt es sie nicht, also verzichte ich auf den Kauf dieser Dinger, und damit verzichte ich auch auf die Plastikfigürchen, die in den Eiern versteckt sind, und mit denen ich ohnehin nichts anzufangen weiß.

Von einer Wundertüte besonderer Art hat mir gestern eine Nachbarin erzählt. Sie ist über 80 Jahre alt und muss sich einer Krebstherapie unterziehen. Sie hatte die Wahl, diese stationär durchführen zu lassen oder aber ambulant. Wegen der Ansteckungsgefahr, die auch im Krankenhaus nicht gänzlich ausgeschlossen ist – wir leben in Coronazeiten – hat sie sich für die ambulante Therapie entschieden. Das Wundersame daran? Bei einer stationären Aufnahme hätte sie keinen Euro für den Corona-Test zahlen müssen. Bei den drei ambulanten Terminen werden jeweils 60 Euro für sie fällig, macht, nach Adam Riese, 180 Euro aus ihrer privaten Schatulle. Gleichzeitig spart die Krankenkasse, denn die Kosten einer ambulanten Behandlung dürften deutlich unter denen der stationären liegen. Sie berichtete mir auch von einem 92jährigen Freund, der trotz aller Bemühungen noch keinen Impftermin hat. Es ist April 2021. Wundertüte 2.0.

Gerade kam ein großes schwarz-gelbes Insekt in mein Arbeitszimmer geflogen. Als Allergikerin erstarrte ich, stellte fast die Atmung ein. CO2 soll Wespen aggressiver machen. Ich wartete, bis das Tier den Weg zurück in den Garten gefunden hatte, schloss das Fenster. Natürlich bin ich für Artenvielfalt. Aber ich hänge auch an meinem Leben, ich habe nur dieses eine. Aber wie komme ich jetzt darauf?

© MichaMahrt 2021-04-01

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