XII – Die Melodie der Farben

Carolin Nägele-Stephan

by Carolin Nägele-Stephan

Story

Aufgewärmt dank Decke, Kaffee und trockenen Klamotten, sitzt Flora am Küchentisch, das Notizbuch vor sich liegend. Bereit, ihre Gedanken niederzuschreiben, den Stift erwartungsvoll zwischen den Fingern. Bereit, für einen bewussteren Umgang mit ihren Gefühlen. Bereit, durch Akzeptanz und Reflexion dem Chaos seinen Schrecken zu nehmen.

Eine Stunde sitzt sie so da, der Kaffee längst leer, die Buchseiten ebenfalls. Ihr Blick ist starr aus dem Fenster gerichtet, unfähig, ihre Gedanken niederzuschreiben. Unfähig, die richtigen Worte zu finden. Unfähig, überhaupt Worte zu finden. Da erinnert sie sich an das Geschriebene ihrer Mutter: Meine kleine Künstlerin. Hatte sie nicht schon früher ihr Innerstes am besten in Bildform darstellen können? Ein Gefühl wohliger, prickelnder Wärme steigt in ihr auf. Wie lange hatte sie keinen Pinsel mehr in die Hand genommen? Sie kann sich nicht entsinnen und fragt sich, warum eigentlich. Verstaubt steht die Staffelei hinter einer Tür, gleich neben dem Wäscheständer, doch deutlich weniger genutzt als dieser. Flora kramt die nötigen Utensilien hervor, ist froh, als sie tatsächlich eine ungenutzte Leinwand findet. Sie drapiert alles vor dem Fenster, stellt sich breitbeinig davor. Nimmt den Pinsel in die Hand, kaut auf dem Ende herum. Eine alte Angewohnheit, die sie anscheinend auch über die Zeit nicht abgelegt hat, ein Automatismus, der sich sofort in Gang setzt. Eine Weile steht sie so da, bewegt sich kaum, nimmt ihre Umwelt gar nicht wahr.

Plötzlich geht ein Ruck durch sie. Flora nimmt den Pinsel fest in die Hand, tunkt ihn in Farbe, setzt ihn an die Leinwand. Und legt los. Wie in Trance fängt sie an, die helle Fläche mit Farben und Mustern, mit vielen Pinselstrichen zu füllen. Wild, unkontrolliert, nicht darauf achtend, was sie da fabriziert, jedes Zeitgefühl verlierend.

Ihre Mutter hat Recht: Es ist wichtig für sie, sich mit ihrem inneren Chaos auseinanderzusetzen. Doch in einem Punkt ist Flora anderer Meinung – nicht das Schreiben ist ihre Form des Ausdrucks, sondern das Malen. Die bildhafte Form, die sich absetzenden Kontraste, die farbenfrohen Muster. Vielleicht reicht das auf Dauer nicht aus, um mit ihren Gefühlen ins Reine zu kommen, doch es ist ein Start. Und auch, wenn das nicht mehr ausreicht, muss sie ihre eigene Art und Weise finden, ihren eigenen Rhythmus, ihren eigenen Stil, um damit umzugehen.

Als Flora den letzten Pinselstrich vollendet hat, lehnt sie erschöpft ihre Wange an die nun bunte Leinwand. Die Farbe ist noch feucht, doch das ist ihr egal. Sie atmet den stechenden Geruch ein und spürt den tiefen Frieden, der sich in ihr ausbreitet. Ja, sie muss sich in vielen Dingen noch finden. Doch ist sie überzeugt davon, auf einem guten Weg zu sein. Entrückt betrachtet sie ihre Hände, wo zu den Milchflecken nun bunte Sprenkel hinzugekommen sind. Floras Muster ist ihre persönliche Besonderheit, die sie in allen Lebensbereichen geprägt hat und immer prägen wird. Und das ist gut so.

Bevor sie weiter nachdenken kann, unterzeichnet sie ihr Bild, mit einem Wort, an das sie vorher nie gedacht hat. Sie betrachtet es, während ein zaghaftes Lächeln ihre Lippen umspielt.

Musterkind.

© Carolin Nägele-Stephan 2024-08-29

Genres
Novels & Stories
Moods
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend