Ein ganz gewöhnlicher Montagabend im Frühjahr 2017, kurz vor 22.00 Uhr, ich sitze mit meiner Frau auf der Wohnzimmercouch, wir reden über dieses und jenes, mein Handy klingelt.
Eine unbekannte Nummer, so spät! Um diese Zeit ruft für gewöhnlich niemand mehr an. „Ja, hier spricht Onkel Herbert. Lange nichts gehört voneinander. Du, ich komme gleich zur Sache: Dein Vater wird bald sterben. Ich hab ihn gefragt, ob er Dich noch einmal sehen will, und er hat ja gesagt!“ Das letzte Treffen mit meinem Vater ist so lange her, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann. Mit einem Schlag ist alles wieder präsent: Scheidung meiner Eltern, Besuchskontakte, schwierige Beziehung, einzelne Kontaktversuche, zuletzt ein Briefwechsel vor 13 Jahren. Doch mit unseren Versuchen, wenigstens auf einen kleinen gemeinsamen Beziehungsnenner zu kommen, verhält es sich wie mit Sisyphos´ Felsblock, der letztlich immer wieder den Hang hinunterrollt.
Und jetzt plötzlich: Er wird sterben, und er will mich sehen! Ich blättere hastig in meinem Kalender: Tatsächlich, kaum zu glauben, übermorgen, Mittwochvormittag ist nichts eingetragen, so als hätte ich unbewusst diesen Vormittag für irgendetwas Außergewöhnliches freigehalten. Ich sage sofort zu: „Wir kommen!“
Landeskrankenhaus Waidhofen an der Thaya, Mittwoch früh. Ich erkenne ihn kaum wieder. Wir setzen uns zu seinem Bett. Er schläft. Ich nehme seine Hand, er erwacht: „Servus Papa, schön, dass, wir uns wieder sehen!“ Er wendet mir mit Mühe seinen Blick zu. „Schau mal, darf ich Dir meine Frau vorstellen?“ Mit noch größerer Mühe wendet er seinen Blick auf die andere Seite. Er sieht sie zum ersten Mal. „I love you!“, gesteht er ihr. Dann ist er kurz sehr klar: „Wir müssen schauen, dass wir wieder Vertrauen zueinander haben“, sagt er zu mir. „Ja, sicher“, antworte ich, „das schaffen wir bestimmt.“ Er fixiert mich mit eindringlichem Blick: „Nimm das Mineralwasser da mit und schütte es weg! Die wollen mich vergiften, die Schwestern hier.“ – „Ok, mach ich.“ Dann wieder ein paar klare Sätze: „Wie seid ihr hergekommen, was hast Du für ein Auto, wo wohnst Du jetzt?“, so etwas in dieser Art. „Magst Du ein Eis?“ Er versinkt wieder in die Demenz.
Er kauft mir ein Eis, er geht mit mir in den Prater und lässt mich auf einem Pony reiten, er geht mit mir auf die damals noch wilde Donauinsel, lässt ein Modellflugzeug mit Benzinmotor steigen, mit dem nur er umgehen kann, er veranstaltet mit mir einen Heidenspaß in der Badewanne, sodass das Badezimmer unter Wasser steht, er schenkt mir ein Buch über die Geheimnisse des Dschungels. Er fährt mit mir in seinem Opel Rekord auf einer Landstraße und hebt mich Knirps plötzlich zu ihm auf den Fahrersitz: „Los, jetzt fährst Du!“, und ich halte das riesige Lenkrad, und fahre Auto!
Dann, mitten in einem verworrenen Satz, schläft er ein. Immer noch halte ich seine Hand. Meine Frau und ich wechseln einen Blick. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Zeit, mich zu versöhnen, Zeit zu gehen.
© Paul Gumhalter 2020-09-19