Zur rechten Zeit, das rechte Wort

Viqui

by Viqui

Story

Ein Schloss aus Wörtern und ich mittendrin. Verwirrt und gleichzeitig neugierig blicke ich um mich, so weit mein Auge reicht – nichts als Wörter, alleinstehend, bedeutungslos. Einsame Adjektive verkriechen sich hinten in der dĂŒsteren, unheimlichen Ecke, grimmige, alte Nomen werfen ihnen misstrauische und verstohlene Blicke zu, nur ein paar junge, mutige Verben tollen in der Mitte des Raumes umher, wagen sich ein paar Schritte auf mich zu. Neugierig geworden, von der hier plötzlich erschienen Gestalt.

Ich selbst versuche mich zu erinnern: Was ist passiert? In meinem Kopf herrscht gĂ€hnende Leere, weiß nicht einmal, wer oder was ich eigentlich bin. Dieser Gedanke macht mir Angst. Ich beschließe, mich abzulenken und mich im Raum genauer umzusehen. Da entdecke ich weitere GrĂŒppchen an Wortarten, die sich offensichtlich aneinander klammern. Sie vermischen sich nicht, bleiben unter ihresgleichen. Am armseligsten wirken die PrĂ€- und Suffixe, die sich, nichtssagend, versuchen aneinanderzureihen, und dennoch keinen Sinn ergeben. Sie sind auf der Suche nach einer Bedeutung, wollen etwas sein. Erneut blicke ich mich um und erst da bemerke ich die stolze, ja teils sogar arrogante Haltung mancher Nomen und Adjektive. Sie wissen um ihren Wert, wissen, dass sie Bilder im Kopf erzeugen, GefĂŒhle und Gedanken auslösen und Menschen zum Lachen oder Weinen bringen können. Sie wissen, dass sie, gepaart mit anderen Worten, so schmerzhaft wie Messerstiche oder so sanft wie Seide sein können; so hell und strahlend wie die Sonne, oder so grau und dĂŒster, wie Gewitterwolken wirken. Nichtsdestotrotz stehen sie hier alleine – bedeutungstragend und dennoch nichtssagend. Sie sind wirkungslos, ohne ihre Partner. Es ist meine Aufgabe, sie zu verbinden. SorgfĂ€ltig in eine Reihe gestellt, komme ich hier vielleicht wieder heraus, finde zu mir selbst, weiß, wer und was ich bin. Eifrig mache ich mich an die Arbeit, hole mir ein großen „Es“ aus der Ecke der Pronomen, nehme es zaghaft an der Hand. Ich fĂŒhre es langsam, aber zielstrebig zum Verb „tun“. In Kombination miteinander konjugiert sich das Verb von selbst. Euphorisch sammle ich zwei weitere Wörter ein und schon ergibt sich der Satz „Es tut mir leid“. Er wirkt fast schon majestĂ€tisch im Gegensatz zu all den anderen, alleinstehenden Wörtern im Raum. Viele sind neugierig geworden, strecken ihre HĂ€lse, um besser sehen zu können. Von einem plötzlichen Gedankenblitz gepackt, entwerfe ich weitere SĂ€tze; SĂ€tze, die einem manchmal schwer ĂŒber die Lippen kommen, SĂ€tze, die StĂ€rke und Selbstvertrauen ausdrĂŒcken und dennoch in unserer Gesellschaft oft als SchwĂ€che interpretiert werden. Immer eifriger mache ich mich ans Werk und auf einmal ist der Raum voll mit LiebeserklĂ€rungen, Danksagungen, Entschuldigungen, GlĂŒckwĂŒnschen, Beileidsbekundungen und Mutmachern.

Und dann, ganz plötzlich, fĂ€llt es mir wieder ein, der Grund, warum ich hier bin. Den Fehler, den ich gemacht hatte. GeschĂ€mt hatte ich mich in jenem Moment. Als er vor mir stand, kamen mir nicht die richtigen Worte ĂŒber die Lippen. Aus meinem Mund kam nur ein undefinierbares Gestotter, leere Worte, nichtssagend, bedeutungslos. Luftworte, nenne ich sie, Worte, die nur gesagt werden, damit sie gesagt sind. Hier im Schloss der Wörter gibt es sie, Wörter mit Bedeutung, sie warten gebannt auf ihren Einsatz. Nie wieder will ich Luftworte verwenden.

© Viqui 2023-11-17

Genres
Novels & Stories
Moods
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend