Wieder liege ich hier auf dem Bett in einem Hotelzimmer und blicke an die Decke. Nur, dass dieses Zimmer rund zehnmal so viel kostet wie das letzte. Ein halbes Jahr ist es her, dass ich in diesem anderen Zimmer gelegen bin. Einsam und allein, nachts um 2 Uhr hellwach, ohne Chance auf Schlaf, habe mich mit einer der schwersten Entscheidungen in meinem Leben, vielleicht sogar der schwersten Entscheidung in meinem Leben, von einer Seite auf die andere gewälzt.
Damals habe ich dich noch nicht einmal gekannt. Damals hat es noch einen anderen Mann in meinem Leben gegeben, der meinen Weg wohl nur aus diesem einen einzigen Grund gekreuzt hat: mir diese Entscheidung überhaupt möglich zu machen. Wäre ich ihm nicht begegnet, ich weiß nicht, ob ich jemals dazu in der Lage gewesen wäre, diese Entscheidung zu treffen. Viel eher hätte ich mich weiter belogen. Mir eingeredet, dass ich Model sei, weil ich gern vor der Kamera stehe. Mir eingeredet, dass ich glücklich sei. Mein Selbstbewusstsein weiterhin aus der Bewunderung anderer gezogen. Und meinen Wert als Mensch immer noch von Agent:innen, Fotograf:innen und Kund:innen bestimmen lassen.
Aber dieser Mann mit seinen verqueren Ansichten hat mir die Möglichkeit genommen, mich weiter zu belügen. Er hat mir die Augen geöffnet und jegliche Möglichkeit zerstört, sie wieder zu verschließen. Er hat mir die rote Pille gegeben, ohne mir überhaupt erst eine blaue anzubieten. Der einzige Grund, warum ich um 2 Uhr immer noch wach gelegen habe, war, weil ich mich mit allen Mitteln dagegen gewehrt habe, diese eine unumgängliche Entscheidung zu treffen. Aber ich habe sie getroffen. In dieser einen Nacht habe ich mich dazu entschieden, kein Model mehr zu sein, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Dass ich nach dieser Entscheidung nicht an die Decke geschwebt bin, nachdem eine tonnenschwere Last von mir abgefallen ist, ist auch das Einzige. Aber so beschwingt ich durch den nächsten Tag geglitten bin, so sehr haben mich die Konsequenzen meiner Entscheidung in den nächsten Wochen und Monaten eingeholt.
Jetzt liege ich hier in diesem teuren Hotelzimmer und stehe kurz davor, meine Entscheidung im Fernsehen mit Deutschland zu teilen. Ab heute werde ich offiziell kein Model mehr sein. Ich weiß, dass es die richtige Entscheidung war. Ich spüre, dass es die richtige Entscheidung war.
Ab morgen beginnt mein neues Leben. Ab morgen heißt es für mich, herauszufinden, wer ich eigentlich bin, wenn ich kein Model mehr bin. Herauszufinden, was mich als Mensch ausmacht, wenn es nicht mehr Schönheit ist. Herauszufinden, was ich wirklich vom Leben will, wenn es nicht mehr Ruhm und Reichtum sind.
„Wir müssen langsam los.“ Du lässt dich neben mir auf dem Bett nieder, gibst mir einen Kuss auf die Stirn. „Alles okay?“
Ich nicke. Dankbar lächel ich dich an. Du hast meinen Weg nicht nur gekreuzt, um wieder zu gehen. Obwohl wir uns erst seit vier Monaten kennen, weiß ich, dass du in mein Leben gekommen bist, um zu bleiben.
(September 2015)
© Kera Rachel Cook 2022-08-31