>“Eine schöne Vision war das“, sagte Ödipus als sie verblasst war. „Erfahrungen und das Entdecken scheinen erfüllend zu sein.“ Die Sphinx lachte. „Und nur diese Dinge sind erfüllend?“, fragte sie hinterlistig. „Wenn du so fragst, denke ich das natürlich nicht“, antwortete er. Er hatte das Gefühl, dass die Lektion eher zu einer Unterhaltung geworden ist und die Sphinx tatsächlich Spaß an diesen Visionen hatte. „Ich kann mir vorstellen, weshalb Freundschaft und Familie nicht unbedingt Teil deiner Ideen sind. Deshalb zeige ich dir diesmal auch eine neutrale Vision.“ Die Worte der Sphinx verhallten, die Umgebung begann zu leuchten und eine Bar war zu erkennen.<
Viermal im Jahr. Für eine Woche. So oft sahen sie sich. Nachdem sie die Schule beendet hatten, hat sich Alles geändert. Studium in anderen Städten und Ländern, Arbeit, Welt entdecken. Natürlich verbindet die digitale Welt und hält viele Freundschaften am Leben, aber schlussendlich kommt es immer auf diese vier Wochen an und das seit 30 Jahren. Früher wurde kein Tag wirklich akribisch geplant oder auch nur festgelegt was alles gemacht werden musste. Nur das Zusammensein zählte. Heute haben sie Familien. Jeder Tag wird zumindest grob geplant, wann wer bei wem auftaucht, wann gegrillt wird und wofür vorgesorgt ist. Und ein Abend gehört immer der Kneipe. Einfach über alles reden. Alte Zeiten, neue Probleme, wo die Zukunft hinführt und ob die Vergangenheit darauf vorbereitet hat. Spoiler Alert: Hat sie nicht. Aber das ist egal. Man weiß, dass man da nicht allein durchgeht. Im Notfall sind sie alle da. Wenn die Eltern sterben, wenn die erste Ehe zu Bruch geht, aber auch die Geburt jedes Kindes, die runden Geburtstage und die Einweihung des neuen Hauses.
Und da saßen sie wieder in der Kneipe. Lachend. Grübelnd. Keiner hätte erwartet, dass ‚Gute Zeiten, schlechte Zeiten‘ tatsächlich ein angemessener Titel für irgendetwas anderes als eine TV-Show auf RTL sein könnte. Aber so ist es und so wird es akzeptiert. Das macht auch das Leben aus, sagen sie. Ohne den Regen würde man schließlich auch die Sonne nicht so wertschätzen. Die Hauptsache ist, dass sie immer noch beisammen sind. Eine zweite Familie sozusagen. Und es hört nie auf mit den Geschichten. Jedes kleinste Detail scheint so unendlich wichtig, dass es von jedem beachtet wird. Keine Story wird ausgelassen, keine Idee verworfen. Unternehmungen geplant, die hier und da noch reinpassen könnten, aber es können ohnehin nicht alle, also schaut man eventuell schon auf bestimmte Daten und Personen. Im Alter wird die Zeit immer knapper. Sie sind 45 und das ist die Zahl für Alles. Vorwiegend die Zahl der Wünsche. Urlaubstage, Stunden auf der Arbeit in der Woche, Minuten für sich alleine. Und doch ist alles im Lot. Zumindest in diesen Wochen, in denen sie sich treffen. Stress ablassen, ausruhen, einfach Abstand von allem nehmen, außer von den Menschen die man für die guten Zeiten braucht. Das ist eben Leben: Ernst und Freude in Balance.
© Pascal Hoffmann 2022-08-29