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Ein Fleckchen Erde

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Ein Fleckchen Erde | story.one

Spanien 1984. Trockenheit.

Der Campingplatz liegt vor den Toren Sevillas, an einer stark befahrenen Straße, ist zudem klein und karg, aber glücklicherweise nicht überfüllt. Herr B. und ich beschließen, ein paar Tage zu pausieren, und richten uns häuslich ein. Dass wir frühmorgens und abends in den Genuss eines einzigartigen Schauspiels kommen sollten, ahnen wir nicht.

Unsere Nachbarn gegenüber sind aus Frankreich, sind Besitzer eines großen schicken Autos und eines kleinen schicken Anhängerwohnwagens.

Madame ist eine ätherische Erscheinung. Nie würde die Banalität eines Ortes die Eleganz ihres Auftretens schmälern: zierlich, elfenhaft, die pechschwarzen Haare zu einem schlichten, aber kunstvollen Knoten geschlungen, eng anliegende schwarze Hose und frisch gebügelte weiße Bluse. So entsteigt sie dem Wohnwagen, ausgestattet mit einer edlen Strohmatte und einer Aura. Anmutig schreitet sie die drei Stufen hinab zum Rasen, entfaltet am Fuße des Treppchens ihre Matte – 1 m auf 80 cm – und macht Yoga. Nie berührt ein Bein oder eine Hand den Rasen, achtsam beschränkt sie ihre Bewegungen auf die Fläche, die ihr die Matte zugesteht.

Wir verehren sie. Unbeirrbar zaubert sie einen Ort der Ruhe in die Welt.

Als wir eines Nachts mit dem letzten Bus aus Sevilla zurückkommen, stehen überall Zelte, sogar auf den Wegen und auf dem asphaltierten Parkplatz. Der Campingplatz hat sich für das Wochenende aufgeplustert, jeder Zentimeter ist genutzt. Auch wir wohnen jetzt Zelthaken an Zelthaken.

Am nächsten Morgen öffnet sich, früh wie immer, die Wohnwagentür gegenüber und sie erscheint.

Wir halten den Atem an.

Als ihr Fuß die mittlere Stufe des Treppchens erreicht, hält sie inne und blickt auf und nach unten, in die Realität dieser Welt. Dort, wo bisher der Platz ihrer Matte gewesen war, stehen nun ein kleines Zelt und ein weniger kleines Motorrad. Sie verharrt. Drei Sekunden? Eine Minute? Kein Aufschrei entweicht ihr. Ihre Miene unbewegt. Sie macht kehrt und verschwindet im Innern.

Kein Yoga mehr. Dafür bekommen wir Monsieur öfter zu Gesicht. Er richtet den großen Wagen für gemeinsame Ausfahrten. Bei Rückkehr ist sein Stellplatz jedes Mal belegt. Und das Unwetter bricht los. Es dauert mehr oder weniger lang, bis Monsieur mehr oder weniger laut sein Recht geltend gemacht hat.

Wir reisen ab, kehren jedoch zwei Wochen später zurück – dem Charme dieses chaotischen kleinen Campingplatzes verfallen. Wir lassen uns häuslich nieder, auf unserem angestammten Platz, und blicken hinüber zum ehemals geheiligten Ort. Unsere französischen Nachbarn sind längst nicht mehr da.

Ich wünsche Madame von Herzen, dass sie auf der Weiterreise einen Platz gefunden haben möge, wo sie frei und ungehindert ihre Yogamatte würde ausbreiten und das Fleckchen Erde in etwas Magisches würde verwandeln können.

© Brigitte Hieber 2020-09-18

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