Wer mit dem Drachen tanzt
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… sollte sich nicht auf dessen Schwanz stellen.
Es begab sich zu einer Zeit, als wir auszogen, die Welt zu erobern. Das ist so lange her, dass es schon fast nicht mehr wahr ist. Doch es existieren Fotos. Nicht von dieser Begebenheit, nein, da waren wir viel zu beschäftigt zum Fotografieren. Aber vom Strand. In der Normandie. In sengender Hitze und brausendem Wind. Du und ich.
Es ist nicht so, dass wir zu dumm gewesen wären. Oder zu unpraktisch. Oder zu unsportlich. Wir waren Akademikerinnen. Handwerklich begabt. Und Sportskanonen. Natürlich. Beide.
Hatte es an der Sonne gelegen? Oder am Wind? Oder an der Sache mit dem Beobachter, der, weil beobachtend, das Geschehen verändert? Oder war es einfach nur Pech gewesen? Wie dem auch sei:
Er flog nicht. Der Drachen.
Dabei hatte alles ganz normal angefangen. Wir waren planvoll und intelligent vorgegangen. Und mit viel Enthusiasmus. So schwer konnte das nicht sein.
Wir kauften uns einen Drachen. Wollten so einen wie die Profis am Strand. Da wir nicht viel Geld hatten, tat es auch einer aus dem Souvenirladen, zum Selberbauen. Die Anleitung war auf Holländisch. Brauchten wir ja eh nicht. Binnen Stunden hatten wir den Drachen zusammengebaut. Flugfertig.
Doch er hob nicht ab. Ein Baufehler? Vorder- und Rückseite verwechselt? Lieber die beigelegte Zeichnung zurate ziehen? Umbau!
Er hob immer noch nicht ab. Männliche Hilfe nahte und meinte, eigentlich müsste er jetzt fliegen.
Also schauten wir erst einmal den Profis zu: Einer hält die Leine, der andere rennt mit dem Drachen. Gegen den Wind!
Und dann rannte ich los. Du gabst Leine.
„Er steigt!“ Grenzenlose Freude! Wir johlten und hüpften im Kreis. Er tänzelte in der Luft. Wir tanzten mit. Wir waren Profis! Ich weiß heute nicht mehr, ob es Applaus von den Umstehenden gab, könnte aber so gewesen sein.
Warum auch immer, plötzlich fiel mein Blick nach unten, auf deine Füße. Ich fuchtelte mit den Armen. Du fuchteltest zurück, dachtest, ich sei außer Rand und Band. Ich schrie. Mein Schrei erstarb in einem gigantischen Lachanfall. Der Satz
„Du stehst auf dem Schwanz!“
kam nicht mehr heraus.
Ich versuchte es mit Zeigen auf den Boden. Du zeigtest nach oben zum immer höher kletternden Drachen.
„Der Schwaaa…“
Japsend wälzte ich mich im Sand. Vielleicht warst du froh, mich so fröhlich zu sehen. Und es war ja auch ein schöner Anblick: Elegant fädelte sich der Drachenschwanz nach oben, dafür hatten wir schließlich eine lange Schnur besorgt und sie reich verziert.
„Schwaaa…“
„Oh nein.“ Entsetzen deinerseits.
Immer noch Lachen meinerseits. Klar, das Schwanzende war ja fixiert.
Irritation deinerseits, dann ein Grinsen: „Wir sind halt doch keine Profis.“
Als ich endlich reden konnte und dich aufklärte: „Du stehst immer noch auf dem Schwanz!“, kugelten wir uns beide auf dem Strand. In der Normandie. In der untergehenden Sonne. Bei abflauendem Wind. Ruhig lag der Drachen zwischen uns.
Erinnerst du dich?
© Brigitte Hieber 2021-02-06
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