Für die Gefangenen der Nackten Insel
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Seelenlose Kakteen säumen die verlassenen und zerfallenen Häuser auf der kroatischen Insel Goli. Eine ehemalige Gefangeneninsel, an deren Kiesstrände die trägen Wellen des Meeres zerfließen. Sie brechen an der Atmosphäre dieser toten, dieser vergangenen Hölle. Ob die Wohnbauten je einladender gewesen sind? Wohl kaum. Am Boden des weiten Meeres, am Ende der müden Wellen sind unzählige Geschichten einzelner Individuen verschluckt. Alle mit demselben, grausamen Ende. Im Wasser schwimmen weggewaschene Geheimnisse, Träume und Gefühle.
Dieser Text sollte im Sinne aller Gefangenen eine stille Anklage darstellen, eine Erinnerung an all das Leiden und für manche ein ruhiges Vergeben. Dieser Text ist für die Gefangenen der Nackten Insel.
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Wie schön ist das Meer, sagst du. Wie ruhig das Wasser.
Aber du weißt nicht, wie viele Tränen bereits hineingeflossen sind, wie viel Leid dieses Wasser schon geschluckt hat. Wie viele Schmerzen am Meeresboden schwimmen, gut versteckt vor allen anderen.
Schwarzen Zuckerguss, so nennen wir die dunklen Wellen. Sie sind inzwischen fast schwarz, weil unsere Seelen darauf abgefärbt haben. Weil sie viele Geheimnisse verschluckt haben, von denen niemand jemals mehr erfahren wird. Deren Gewicht einzig allein auf unseren Schultern liegt.
Ihr habt alle vergeben, ihr wollt vergessen, was mit uns passiert ist. Es betrifft euch nicht mehr. Das Meer scheint mystisch, unsere Insel still. Der Wind trägt unsere aufgegebenen Seelen davon.
Und irgendwann, da wird unsere Insel vom schwarzen Zuckerguss verschluckt werden. Dann werdet ihr unsere Geschichte endgültig vergessen haben. Unser Leid wird im Wasser ertrinken, niedergedrückt von Nichtbeachtung und Klimaerwärmung.
Doch unsere Seelen werden woanders sein, weggeweht vom Wind, weit weg vom schwarzem Zuckerguss. Ihr werdet uns vergessen haben.
Wir mussten vergeben, doch vergessen werden wir nie.
- Gefangene der Insel Goli
© Carmen Aschbacher 2021-03-13
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