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#1sommer1buchtirol

Höhenweg, verdammt alpin

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Höhenweg, verdammt alpin | story.one

Stecken sind etwas für die Alten und die Zittrigen, dachte ich in meiner jugendlichen Arroganz und ließ sie zuhause stehen. Auf der Karte sah der Weg verlockend und harmlos aus. Von einer Hütte zur nächsten, keine großen Höhenunterschiede, sechs Stunden Gehzeit, nach vier eine Einkehrmöglichkeit.

Ich nahm die Gondel zur Bergstation und spazierte von dort durch ein Meer an Enzianen bis zur Hütte, in der ich übernachtete. Am nächsten Morgen stand ich mit der Sonne auf und ging es gemächlich an. Unter den Gipfeln saßen die Wolkenreste eines nächtlichen Gewitters und die Enziane schliefen noch mit geschlossenen Kelchen.

Die ersten Strahlen der Sonne brachten Bewegung in die Wolken. Sie fingen an auszufransen, sich zu teilen und zu fliegen und plötzlich hatte mich eine umfangen. Milchig weiß hockte sie auf dem Weg vor mir und nahm mir die Sicht. Gerade einmal den Stein vor meinen Schuhspitzen konnte ich noch erkennen. Verdammt, mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. „Sie wird sich auflösen“, beruhigte ich mein beunruhigt klopfendes Herz und machte einen zaghaften Schritt vorwärts. Der feine Schotter unter meinem Schuh rutschte weg und ich fing mich mit Mühe ab. Wart, wart ein bisschen. Die Sonne wird den Nebel verdampfen lassen. Wart einfach noch ein bisschen.

Die Sonne tat ihre Arbeit und öffnete mir den Blick auf den weiteren Weg. Schotterreisen. Schotterreisen! Bis zum Horizont. Steile Halden aus nichts als Schotter, der Weg ein schmales Band. Ein falscher Tritt und ich bin weg. Nichts, was mich halten würde, nichts, woran ich mich festhalten könnte.

Umkehren?

Ein paar Steine kullerten an mir vorbei. Ich sah ihnen nach. Ganz unten, schon fast beim Bach, kamen sie zu liegen. Ich schaute nach oben. Zwei Gämsen standen da und lachten mich aus. „Ihr habt gut lachen“, sagte ich, „ihr habt vier Hufe. Ich nur zwei.“ „Hättest halt deine Stöcke mitnehmen sollen“, meckerten sie und sprangen leichtfüßig den Steinen nach, die sie zum Kullern gebracht hatten.

„Verlass dich auf deine Schuhe“, hörte ich die Stimme meines Vaters. „Setz sie ordentlich auf, nicht so zaghaft wie vorhin, dann hält dich das Profil.“ „Dein Wort in der Berggötter Ohr“, seufzte ich und konzentrierte mich auf meine Füße.

Drei Stunden später fiel ich auf die Bank vor der Rasthütte. „Früh bist unterwegs“, sagte der Wirt. „Ja“, sagte ich, „die Angst hat mich getrieben.“ „Du isst jetzt eine Suppe, weil die wirst du brauchen“, sagte er und stellte mir einen Teller mit Knödeln hin. „Da vorn is noch ein Schneefeld.“

Oh meingott, wäre ich doch umgekehrt! Jetzt kann ich nicht mehr zurück. Ein Schneefeld, das auch noch! Nach den ganzen Schotterhalden. Meine Oberschenkel zittern. Vom Weg hierher und dem Gedanken an den, der vor mir liegt. Und mit denen über rutschigen und brüchigen Schnee? Ich sank zurück auf die Lehne der Bank. Was tun?

„Ich leih dir Stecken“, sagte der Wirt. „Die gibst dann in der nächsten Hütte ab. Berg heil!“





© Christine Mayr 2020-08-09

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