skip to main content

Rosa beschließt zu sterben

  • 303
Rosa beschließt zu sterben | story.one

Als Rosa an diesem kristallklaren Dezembernachmittag ihre Zimmertür im Heim zur Seligen Anna hinter sich ins Schloss fallen lässt, beschließt sie zu sterben.

Vor einer Stunde hat sie ihrem Sohn eine Rose ins Grab nachgeworfen, ihre Enkel und Urenkel geküsst, den Schal fest um den Hals geschlungen und darauf bestanden, allein nach Haus zu gehen.

„Es wird schon wieder“, hat die Frau ihres Lieblingsenkels zu trösten versucht, „zu Weihnachten holen wir dich, wenn der Karpfen fertig ist.“ Rosa hat genickt.

Nun legt sie Hut, Schal, Handschuhe und Mantel ab, schlüpft in ihre Hausschuhe und setzt sich in ihren Lehnstuhl. Sie legt die Füße hoch und schaut zum Fenster hinaus.

„Ab heute esse ich nichts mehr“, eröffnet sie dem Pfleger, als er mit dem Abendessen kommt. „Nehmen Sie es wieder mit!“

„Frau Rosa“, sagt der Pfleger sanft und besorgt, während er das Tablett abstellt. „Ich weiß, es war heute ein ganz schwerer Tag für Sie …“

„Sie haben keine Ahnung“, fällt ihm Rosa ins Wort. „Nehmen Sie das Tablett wieder mit. Und schließen Sie bitte die Vorhänge.“

Und so sitzt Rosa in ihrem Lehnstuhl, nippt an ihrem Tee und wird jeden Tag ein bisschen weniger. Nach einer Woche vertauscht sie ihren Lehnstuhl mit dem Bett. Ihre Enkel und Urenkel kommen und wischen sich die Augen. Manchmal sieht Rosa zur Wanduhr, deren Ticken sie nicht mehr so deutlich hört.

Kurz nach Neujahr beginnt es zu schneien. Trüb hängt das Licht in den Räumen des Heims, als Rosa aus ihrem Schlummer erwacht. Auf dem Geländer ihres Balkons liegt fingerhoch ein Flaum von Schnee. Mit einem Restchen von Kraft schafft sie es, den Klingelknopf zu betätigen. „Den Pfarrer“, flüstert sie, als der Pfleger sich zu ihr beugt.

„Bitte, Herr Pfarrer“, sagt Rosa leise, „bringen Sie mir ein bisschen Schnee.“ Der Pfarrer nimmt Rosas Teetasse und streift den zarten Flaum in die Tasse. Das ganze Geländer macht er leer, bis die Tasse randhoch mit Jänner-Schnee gefüllt ist. Er kehrt ins Zimmer zurück, schließt sacht die Tür und schüttet Rosa ein paar der glitzernden Sternchen in die Hände. „Mehr“, sagt Rosa und drückt den Schnee, bis er zu schmelzen beginnt.

„Wissen Sie, Herr Pfarrer“, sagt sie, „im Himmel gibt es keinen Schnee. Lassen Sie mir doch bitte einen Teller Suppe bringen. Und morgen Mittag das ganze Menü.“

© Christine Mayr 2020-02-10

Kommentare

Gehöre zu den Ersten, die die Geschichte kommentieren

Jede*r Autor*in freut sich über Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.