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Tauwetter im Götterhimmel

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Tauwetter im Götterhimmel | story.one

Weiß der Teufel warum, aber die Götter in Weiß bescheren mir gern Überraschungen. Nicht nur vor Weihnachten. Grundsätzlich neigen sie ja dazu, auf das zu behandelnde Menschenvolk von oben herabzuschauen (was in der Natur der Sache liegt, wenn man im Götterhimmel wohnt) und es zwischen Schneewolken und Graupelschleudern auf die Gnade ihrer Ankunft warten zu lassen. Kurz angebunden fertigen sie es dann ab und nuscheln mit unverständlichen Worten Diagnose und Therapie. Meinereins überlegt es sich dreimal, bevor sie sich in den himmelwärts gewachsenen Beton-Glas-Bau begibt, in dem sie ihre Audienzen geben. Dann erklimme ich mit einem Kloß im Hals die Himmelsleiter und bin darauf vorbereitet, viele Seiten Zeitung lesen zu müssen, bevor ein metallener Aufruf etwas krächzt, was mein Name sein könnte.

Auch vorhin habe ich ein mutloses Grüßgott in die Warterunde gemurmelt, meinen Mantel aufgehängt und mich auf den vorletzten freien Stuhl gesetzt. Gelangweilte Augenpaare sehen mir zu, wie ich die Zeitung aus der Handtasche fische. Elf Menschen, zähle ich. Da werde ich auch noch das knifflige Sudoku lösen können, bevor ich an die Reihe komme. Doch kaum habe ich die Titelseite überflogen, schnarrt der Lautsprecher meinen Namen. Ich falte die Zeitung zusammen und gehe zu der Tür, aus der eine Engelin im blauen Kittel lugt. Bitte, sagt sie und verweist mich auf eine Liege. Die Schuhe können Sie anbehalten. Der Rundkopf in Weiß am Computer würdigt mich keines Blickes und keines Grußes. Grüßgott, sage ich. Nach einer Weile nähert er sich mir und tastet mit konzentriertem Blick meine Problemzone auf dem Schienbein ab. Haben wir am Sechzehnten einen Termin frei?, fragt er die Engelin in Blau. Ohne mich anzusehen, ohne ein Wort zu mir. Ich setze mich auf. Moment, worum geht es eigentlich? Was habe ich denn? Da schaut mich Rundkopf doch glatt an. Er. Schaut. Mich. An.

Wir machen einen Schnitt und nehmen das Ding heraus. - Aha. Und dann? - Dann vernähen wir die Wunde wieder. - Und die vierzehn Tage außer Gefecht sein, vor denen mich mein Hautarzt gewarnt hat? Und die Haut, die von einer anderen Stelle am Körper genommen werden muss? - Alles nicht nötig, sagt der Gott in Weiß und zeigt oberhalb der Maske ein Minimallächeln. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir, sagt er. Ich zeichne Ihnen das auf. Der Tumor sitzt neben dem Knochen, nicht darauf.

Tumor?!

Wir nennen alles Tumor, was in die Breite und Höhe wächst. (Angstmachende Wörter gehören wohl zur göttlichen Mission.) Gott Rundkopf lacht. Er lacht! Und zeichnet Striche um einen Kreis, den er Tumor nennt und meint, da wäre genug Haut. Da müsse man nichts von woanders importieren.

Schön, dass das so einfach ist.

Wir sehen uns am Sechzehnten, sagt er und verschwindet. Jetzt haben wir Sie überrascht, gell?, lächelt Engelin Blau und ich schaue zu, wie sich die Schneewolken verziehen und die Graupeln in ihrer Schleuder schmelzen.

© Christine Mayr 2021-11-27

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