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#weiblichkeit#transition#lgbtqia+

Linda war mutig

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Linda war mutig | story.one

Linda war immer so, wie die anderen Mädchen gewesen. Als Teenagerin hatte sie es geliebt, sich die Nägel bunt zu lackieren oder hübsche Kleider zu tragen. Sie hatte die Prinzessinen aus den Geschichten gemocht und davon geträumt, einmal Friseurin zu werden. Klischees hatte sie blöd gefunden und dennoch war sie eines gewesen. Sie hatte sich einfach nicht helfen können und ihre junge Weiblichkeit zelebriert. Zumindest soweit, wie möglich. Denn Linda’s Körper war nicht so feminin gewesen, wie sie es gerne gehabt hätte. Und mit der fortschreitenden Pubertät war alles in ihrem Leben gekippt. Die Ärzte, die ihr auf die Welt geholfen hatten, hatten Linda zum Jungen erklärt. Und mit 13 hatte ihr Körper dem laut Applaus geklatscht. Sie hatte das nicht wollen. Als ihre Stimme damit angefangen hatte zu brechen, hatte ihr Herz es jener gleichgetan. Ihre Eltern hatten das eine Phase genannt. Und obwohl sie ihre Tochter nicht ernst genommen hatten, hatten sie damit angefangen, es ihr zu verbieten, den Nagellack ihrer Mutter zu benutzen. Ihr Vater hatte ihr mit dem Gürtel gedroht, wenn sie über Kleider von Promis geschwärmt hatte. Die Geschichten mit den Prinzessinen waren vergessen worden. Und man hatte Linda zu Onkel Nils in die Werkstatt geschickt, damit sie dort etwas Anständiges lernte. Es sei nur zu ihrem Besten, hatten sie gesagt. Aber das war eine Lüge gewesen.

Linda war so, wie alle anderen Frauen auch. Ihre Jugendzeit war hart gewesen, doch heute hatte sie sich davon losgesagt. Davon und von ihrer Familie, die sie ausgestoßen hatte. Sie hatte niemanden mehr und dennoch fühlte sie sich besser denn je. Heute war sie erwachsen. Heute lackierte sie sich jeden Tag die Nägel. Sie trug die tollsten Sommerkleider und ihre blonden Locken waren lang. Endlich war sie die, die sie schon immer gewesen war und sein wollte, anstatt eine Rolle zu spielen und ihren unbeholfenen Eltern alles recht zu machen. Sie akzeptierte ihren Körper, nachdem sie ein Jahr Therapie hinter sich hatte. Die Hormone halfen auch. Doch manche Andere akzeptierten sie nicht. In just diesem Moment, in dem sie vor der öffentlichen Frauentoilette stand, wurde ihr das wieder schmerzlich bewusst. Ihr Herz raste. Sie klammerte sich an ihre Tasche aus lila Kunstleder. Und obwohl ihr der Unterleib schmerzte, weil sie so dringend musste, überlegte sie abermals, ob sie das Klo überhaupt betreten sollte. Denn es gab Menschen, die sie einen verkleideten Mann nannten, der Frauen nachstellte. Das war nicht wahr.

Linda war mutig. Also stieß sie die Tür nach einem langen Hadern endlich auf. Sie vermied es, den anderen Frauen in die Augen zu sehen, die an den Spülbecken standen und sich die Hände wuschen. Als flüchte sie, steuerte sie auf eine der Klokabinen zu, um sich darin einzuschließen. Sie war mutig, ja. Und dennoch wartete sie danach lange in der Kabine und lauschte, um sicherzugehen, dass sie am Ende die Einzige in den Räumlichkeiten war. Händewaschen wollte sie nämlich alleine.

© Dorian Auer 2022-06-21

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