Zeit zu gehen
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Die Frage, wann der Zeitpunkt kommen wird, um alles Irdische hinter sich zulassen, an dem es Zeit ist zu gehen, um in eine andere Dimension einzutreten, stellen sich wohl viele Menschen im Laufe ihres Lebens. Bei manchen sind Gedanken, die sich mit der Endlichkeit des Lebens und der Frage nach dem Danach beschäftigen, nicht selten ständige unliebsame Begleiter. In Wahrheit weiß niemand, was uns >drüben< erwarten wird. Eine bislang nicht gekannte Glückseligkeit in einem farbenfrohen Paradies vielleicht, oder auch nur eine immerwährende Finsternis, losgelöst von allem, was das Leben ausmacht? Einer möglichen Antwort darauf näher sind jene, die bereits an der Schwelle zur Unendlichkeit gestanden oder womöglich, ihren Wahrnehmungen nach, diese sogar überschritten und dem Tod ins Antlitz geblickt haben.
Am frühen Morgen eines trüben Septembertages fühlte ich mich ziemlich unwohl und am liebsten hätte ich das Bett den ganzen Tag über nicht verlassen. Pflichtbewusst wie ich war, stellte ich mich den stressigen Herausforderungen des beruflichen Alltags. Völlig ausgelaugt und missmutig kam ich spätabends todmüde nach Hause und beschloss, alsbaldig Körper und Geist einen erholsamen Schlaf zu gönnen; nicht ahnend, wie sehr diese Nacht mein weiteres Leben verändern sollte.
Alle waren sie da: Meine Eltern, die zu mir sprachen und mit mir lachten. Sie waren jung und offenbar glücklich. Auch mein Bruder und meine Schwester, beide einige Jahre älter als ich, schienen gut gelaunt und zufrieden zu sein. Dass sie augenscheinlich im gleichen Alter wie meine Eltern waren, ließ mich keinen Gedanken daran verschwenden, dass all das nicht real sein konnte. Ich war glücklich, mit ihnen vereint zu sein, obwohl ich wusste, dass sie alle längst verstorben waren. Aber nicht nur meine Familie war hier, auch mein alter, stets aus dem Maul stinkender Kater, den ich erst vor einigen Jahren beerdigt hatte, verlangte nach Zuwendung. Ich war überglücklich, dass auch meine beiden geliebten Hunde, die ich so lange schmerzlich vermisst hatte, mir jaulend ihre Liebe bekundeten. Sie alle waren bereits vor langer Zeit von mir gegangen.
Am Rücken liegend und unfähig, mich zu bewegen, scheiterten sämtliche Versuche, aus einem möglichen Traum zu erwachen, kläglich. Ich war davon überzeugt, soeben ins Jenseits übergetreten zu sein. Dabei empfand ich ein mit Worten nicht zu beschreibendes Glücksgefühl, all jene Menschen und Tiere wiederzusehen, die ich liebte und deren Ableben mir großen Seelenschmerz verursacht hatte.
Ein Arzt, dem ich mich anvertraut und ihm versichert hatte, dass es kein Traum im herkömmlichen Sinn gewesen sein konnte, vermutete, dass es sich um eine Schlaflähmung gehandelt haben könnte. Eine vorrübergehende verminderte Sauerstoffzufuhr könnte der Auslöser für eine Art >Nahtoderfahrung< gewesen sein.
Wie auch immer: Dieses einzigartige Erlebnis hat mir jegliche Angst vor dem genommen, was >danach< kommen könnte.
© Harald Hartl 2022-03-04
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