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Du siehst was, was ich nicht seh

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Du siehst was, was ich nicht seh | story.one

,,Du brauchst eine Brille", sagte die Augenärztin zu mir, nachdem ich den Sehtest mehr als ungenügend beendet habe. Ein riesiger Schock für mich. Eine Brille? Da lacht mich ja die ganze Klasse aus.

Ich sehe alles, was ich sehen muss. Noch nie wäre mir aufgefallen, dass ich Probleme habe was zu erkennen. Vielleicht habe ich hin und da an der Tafel nicht genau lesen können oder mich schwergetan zu erkennen, wer mir von der Ferne zuwinkt-aber eine Brille?

Nach einer endlosen Diskussion mit meiner Mutter und viel Lärm um nichts musste ich mich fügen. Sie zeigte kein Erbarmen. Ich musste mich meiner Zukunft als Vierauge hingeben. Schon allein der weg zum Optiker bereitete mir Bauchschmerzen. Beim Optiker angekommen ging es los. Brille um Brille probierte ich an und lehnte sie schließlich stur kopfschüttelnd ab. Als ich mich so im Spiegel mit Brille sah, dacht ich mir, ich hätte gut die weibliche Hauptrolle in Harry Potter darstellen können.

,,Richtig schön schaust du aus und richtig intelligent!", motivierte mich meine Mutter, doch auch ihr Zuspruch konnte meine Meinung nicht ändern. Ich will keine Brille. Nach einer gefühlt, halben Ewigkeit und zig abgelehnten Brillen sah ich die Verzweiflung meiner Mutter und den hilflosen Blick des Optikers. Ich hatte etwas Mitleid.

,,Die wird's!",ich zeigte auf irgendeine Brille inmitten des Brillenchaos und merkte wie sich die Anspannung im Raum löste. Nach einer Woche durfte ich die Brille dann abholen. Was für eine Freude.. Meine Mutter und ich holten die Brille ab mit der Abmachung, dass ich sie erst am Abend aufsetzen musste. Dann war es so weit. Der Abend brach heran. Ich stand vor dem Spiegel und verabschiedete mich überdramatisch von meinem brillenlosen Ich. Kurz durchatmen. Brille auf. Ich schaute mich lange an. Ich dachte es wäre einer meiner schlimmsten Momente, doch so war es gar nicht. Die Brille war nicht hässlich und irgendwie ließ sie mich interessanter wirken.

Als ich schließlich aus dem Fenster schaute, traf es mich wie der Blitz. Ich konnte plötzlich alles auf das kleinste Detail erkennen. Die Bäume am Ende der Straße, sogar die einzelnen Blätter und deren Farben, die Schriftzüge der Plakate an der Litfaßsäule und sogar den Gesichtsausdruck der Kinder hinten auf dem Spielplatz. .,,Wow!",war das einzige, was mir über die Lippen kam. Ich wusste gar nicht, dass ich zuvor so schlecht sehen konnte. Alles schien plötzlich wie ein Gemälde für mich.

,,Doch nicht so schlecht ein Vierauge zu sein, was?", grinste meine Mutter, die mich die ganze Zeit beobachtet hatte. Ich konnte ihre Aussage nicht verneinen und so nickte ich nur etwas beschämt und wandte mich wieder “dem Gemälde” zu.

© Lovisa 2021-05-14

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