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#mut#warum#ungerechtigkeit

Mutter Courage. Hast Du Ohrstöpsel?

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Mutter Courage. Hast Du Ohrstöpsel? | story.one

Ich war Rechtspraktikant an einem kleinen Bezirksgericht in der Grünen Mark. Während dieser Zeit habe ich einiges gesehen und erlebt. An vieles kann ich mich nicht mehr erinnern, aber dieses einmalige Erlebnis hat sich in meinem Gehirn eingebrannt. Meine Aufgaben bestanden darin, den Verhandlungen beizuwohnen und abschließend ein Protokoll darüber zu verfassen. Zu meiner Linken saß wie üblich der Richter.

Eigentlich war er ein netter Mensch mit dem falschen Beruf. Er war kurz vor seiner Pensionierung und freute sich schon lange Zeit darauf. Vielleicht sogar Jahrzehnte. Leider erfüllte er sämtliche Klischees, die man sich bei solch einer Respektsperson besser nicht vorstellt. Er sprach abwertend über andere, vor allem über Frauen und Nichtösterreicher. Und oftmals hat er das eine oder andere Bier vor und nach der Verhandlung getrunken. Sein Leitspruch und zugleich seine Rechtfertigung waren: “Weil sonst druck i den ganzen Schas ned mehr durch!”

Wir hatten mehrere Verhandlungen an einem Tag und jedes Mal forderte er die am Gang wartenden Parteien via Mikrofon auf, in den Saal einzutreten. Als er den Akt für die nächste Verhandlung zur Hand nahm, tat er sich schwer, den Namen der betroffenen Person korrekt auszusprechen. Er suchte seine Lesebrille und platzierte sie auf seiner leicht rötlichen Nasenspitze. Den Namen des afrikanischen Staatsbürgers konnte er noch immer nicht artikulieren. Also fragte er mich: “Kannst du des lesen?” Ich gab mein Bestes. Das stellte ihn allerdings nicht zufrieden. Er sagte sachlich: “Herr Abkbakabnakaaaa, bitte in Saal 3!” Das klang zwar sehr bemüht, aber keinesfalls abwertend. Er wartete ein wenig. Nichts geschah, die Tür blieb geschlossen. Er wiederholte leicht genervt: “Herr Abkbakabnakaaaaaaa, bitte in Saal 3!”

Wieder nichts. Jetzt war er wirklich entnervt. Vermutlich freute er sich schon auf den Feierabend und aufs Bier. Also legte er den rosa Akt weg, drückte auf den Mikrofonknopf und trommelte plötzlich mit beiden Händen wie wild auf die alte Tischplatte. Nach kurzem Warten öffnete sich zaghaft die Tür zum Verhandlungssaal. Ein Afrikaner betrat verunsichert den Saal. Der Richter rief triumphierend in die Runde: “Seht. Ich hab ja gewusst, dass es funktioniert!”

Alle schauten ihn an. Keiner wagte, etwas zu sagen. An diesen Tag, der mittlerweile 20 Jahre her ist, kann ich mich (leider) noch allzu gut erinnern. Noch heute ärgere ich mich über mich, dass ich nur danebengesessen bin und nichts gesagt habe. Mein Verhalten war nicht richtig. Das wusste ich schon damals und heute umso mehr. Dennoch war ich absolut taub und habe einfach weggeschaut und weggehört.

Aber warum habe ich das gemacht? Ich war damals zu mutlos, dem Richter zu widersprechen, da er mich in meiner Arbeit auch benotet hat.

In welchen Situationen tragen wir im Alltag unsichtbare Ohrstöpsel, auf die wir verzichten sollten? In der Familie? In der Beziehung? Im Beruf?

© Martin Buchgraber 2020-08-19

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