Schlangenmedizin
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'Guten Morgen! Was willst Du zum Frühstück?' fragte ich meine Mutter. Langsam erhob sie sich aus dem Bett im Büro meines Vaters. Sie konnte nicht mehr in ihrem Zimmer im 1.Stock schlafen, da sie die Stufen hinauf nicht schaffte. Wir hatten den Dachboden gerade ausgebaut, das Badezimmer wurde fertiggestellt - sie suchte die Fliesen aus, die sie niemals mehr in der Badewanne liegend sehen sollte. Sie antwortete:' Hm, zuerst mal Kaffee, dann ein Brot mit Marillenmarmelade und zum Abschluss etwas Schlangenmedizin.' Brot war selbst gebacken, die Marillenmarmelade selbst eingekocht. Ohne Kaffee konnte meine Mutter nicht und die obligate Zigarette fehlte ihr sehr. Um die Lunge zu stabilisieren, hatten wir Schlangenmedizin gewählt. Da meine Mutter sicher war, keine weiteren Krankenhausaufenthalte auf sich nehmen zu wollen, versuchten wir begleitende Medizin, um die Spitzen der Symptome abzufangen. Damit nicht täglich der Hausarzt kommen musste, lernte ich, subkutan Spritzen zu setzen. Ich drang meiner Mutter unter die Haut. Das war keine einfache Situation für mich. Mein Vater weigerte sich. 'Wenn Du Arzneien brauchst, geh' zum Arzt. Aber das willst Du ja nicht.' sagte er. Aus und Schluss mit der Diskussion, die sich ergeben könnte. 'Und ich sage es nochmals - JEDER Arzt ist der Meinung, dass Du ersticken wirst. JEDER!!! Du wirst einen fürchterlichen Erstickungstod erleiden, wenn Deine Lunge wegen des Krebses kollabiert. Und wir werden mit dem Notarzt ins Spital fahren, wo Du sterben wirst!' sagte mein Vater unter Tränen voller Wut und Zorn. Ich hatte Angst. Ich wusste nicht, wie es enden würde. Ich hoffte, dass mir 'jemand' die Kraft gab, das zu tun, was zu tun war. Der Vormittag verlief entspannt, meine Mutter wagte eine kleine Runde im nahe gelegenen Wald. Sie kam einmal zurück, weil sie etwas vergessen hatte. Ich beobachtete sie und sah, dass sie sich eine Zigarette mit nahm. Am Abend, als mein Vater mit Freunden unterwegs war, sprach ich sie darauf an. 'Entweder rauchst Du, weil es Dir wichtig ist - es ist DEIN Leben. Oder, Du rauchst NICHT. HEIMLICH geht gar nicht für mich!' Meine Mutter fühlte sich ertappt. Ich erklärte ihr nochmals, dass es ihr Leben, ihr Ende sei - mit oder ohne Zigarette. Ich wollte keine Heimlichkeiten. Sie brach in Tränen aus, entschuldigte sich und umarmte mich, so fest sie es noch konnte. Zigaretten waren ab diesem Moment nie mehr das Thema. Sie fragte nur zaghaft: 'Sagst Du es Deinem Vater?' Ich sah sie erstaunt an: 'Natürlich nicht, der versteht das sowieso nicht'! Und es war wieder einmal Abend geworden. 'Na frag' schon' sagte sie. Sie wusste, Corona beschäftigte mich immer noch. 'Wann erwache ich aus diesem Alptraum?' fragte ich. Sie wurde ganz weich bei dieser Frage: 'Äußere Zwänge und Beschränkung können Dir übel mitspielen. Ich kenne das aus dem Krieg. Wenn Du nichts zu verlieren hast, bist Du frei.'
Meine Mutter starb am 13.11.1985 mit 55 Jahren. Todesursache: Lungenversagen durch Lungenkrebs
© Michaela Schmitz 2020-05-09
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