Nichts ist wie es scheint
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Als sie wieder zu sich kam, fühlte sie sich ziemlich benommen und griff instinktiv mit ihrer Hand auf den brummenden Schädel und entdeckte das frische Blut auf ihren Fingerspitzen. Ein prüfender Blick der Räumlichkeit bestätigte ihre Vermutung – sie wurde wohl niedergeschlagen und in jenem Zimmer irgendeines Hauses fernab der Zivilisation eingesperrt.
Ein Fenster gab es nicht in dem Raum, nur eine kleine Tischlampe, wodurch eine Einschätzung der Tageszeit erschwert war. Sie versuchte sich so gut wie möglich zu erinnern, was sie zuletzt tat. Ihr fiel das Tanken an der Instate ein, das Essen in dem Diner, die anschließende Lucky Strike und ein Fremder, die sie, als sie gerade das Auto aufsperren wollte, nach Feuer fragte. 180cm groß, dunkle Haare, braune Augen, eine kleine Narbe an der Schläfe und Dreitagesbart. Er muss sie wohl im Anschluss an das Gespräch niedergestreckt haben, dachte sie, als sich die Türe plötzlich öffnete und jemand das Deckenlicht anknipste. Das grell wirkende Licht veranlasste sie, ihre Hände vor ihre Augen zu halten.
„Jane, welch Freude Sie endlich persönlich kennenzulernen“ sagte eine etwa 50-jährige Männerstimme, die definitiv nicht jenem Mann gehörte, den sie zuletzt begegnete. „Oh, entschuldigen Sie, das Licht ist sicher zu stark“, sprach er und drehte es wieder aus. „Fühlen Sie sich stark genug für einen kleinen Spaziergang?“ fragte er und half ihr auf.
Er brachte sie durch einen Gang zu einer Türe und noch bevor er sie öffnete, hielt er ihr eine Sonnenbrille entgegen mit den Worten: „Es ist sonnig draußen“.
Sie setzte die Shades auf und begleitete ihn ins Freie. Die Luft war rein und frisch, aber für ihren Kreislauf herausfordernd. Ihm entging dies nicht und daher stütze er sie auf den Weg zu einem Tisch, wo er ihr auf einen der Sessel half und ein Glas Orangensaft einschenkte. Sie nahm ein paar Schluck davon und stellte das Glas wieder ab.
„Sie möchten sicher wissen, warum Sie hier sind, nicht wahr?“ fragte er und nahm ihr sanftes Nicken als Zustimmung an. „Tja, sie waren sehr fleißig in letzter Zeit und haben uns Einiges an Arbeit abgenommen – hierfür schon mal danke schön. Aber Sie können sich natürlich auch vorstellen, dass man nichts aufhalten kann, was bereits seit vielen, vielen Jahrzehnten geplant war. Und selbst wenn Sie noch weitere andere Gallionsfiguren von der Bildfläche verschwinden lassen würden, dann rückten einfach andere nach. Das Abdanken der bereits trägen Marionetten kam uns, ganz ehrlich unter uns gesagt, mehr als gelegen. Ihre Arbeit gefällt mir in der Tat sehr gut, liebe Jane! Und unter anderen Umständen würden wir ein fabelhaftes Team abgeben“, waren seine letzten Worte, bevor sie nach Luft ringend vom Stuhl kippte und versuchte die klaffende Wunde mit ihren Händen zuzuhalten.
Das letzte, das sie sah, war die Blüte einer pfirsichfarbenen „Augusta Luise“, welcher er neben ihr niederlegte. Der fruchtig-süßer Duft stieg in ihre Nase, bevor sie ihre Augen für immer schloss.
© Sylvia Eugenie Huber 2022-03-17
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