Es ist kalt im Zelt. Die eisige Winterluft pfeift durch die Schlitze am Eingang. Es muss gegen 2 Uhr morgens sein und die nächste Gruppe kommt herein, angeführt von einer Freiwilligen.
„Ten people in each spot. Can you translate?”, wendet sie sich an einen jungen Araber.
„Please translate, the people have to sit here“, wiederholt sie und zeigt dabei auf die hölzernen Sitzbänke vor uns. „Yes“, hilft er mit. „Someone speaks Farsi and can translate? Like that, ten people.”
Die Unruhe legt sich und bald hat jeder einen Platz gefunden. „You will get water. When we get the signal, you can go through this door”, deutet sie auf den Zeltausgang hinter sich “the german police will welcome you. There are buses and you will get shelter, please translate.” Während sie erklärt, beginnen wir Wasser auszuteilen. Die Erschöpfung steht den Leuten ins Gesicht geschrieben. Einige Jugendliche wollen Selfies machen und wir lassen sie.
Mir fällt ein kleiner Junge ins Auge, etwa fünf. Er hat sich gerade an den Maltisch gesetzt und beginnt, seine Erinnerungen aufs Blatt zu zeichnen. Die Zeltwand ist voller Bilder der Kleinsten und auch Größeren. Lebhafte Kunstwerke von zerstörten Häusern, Booten, Blut und den Bergen. Ich setze mich zu ihm und wir malen und unterhalten uns ohne Worte. Es klappt gut, er strahlt mich bald schon aus dunklen, aber leuchtenden Kinderaugen an. Ich weiß, er hat jetzt für einen Moment vergessen, auch das Malen. Er sieht das Bobbycar – das meistbegehrte Spielzeug im Zelt und schnappt es sich sofort. Ich schiebe ihn an und er rast wild umher, rangelt kurz mit einem anderen Jungen, der beim Anblick dieser Raserei Blut geleckt hat. Ich gebe ihnen mit lächerlich erhobenem Zeigefinger zu verstehen, dass jeder drankommt und der Vater macht dem schließlich mit einem „Yalla“ ein Ende. Er kann Englisch und zeigt mir Bilder seines Hauses, wie es vor dem Krieg aussah. Er sei Lehrer gewesen in Damaskus und zeigt auf einen Rucksack. Das sei alles, was seiner Familie geblieben ist. Ich drücke ihm mein Mitgefühl aus und komme mir unbeholfen dabei vor.
„The first group, come.”
Plötzlich zieht etwas an meinem Mantel. Ich schaue runter und der Kleine steht mit Kulleraugen vor mir. Er hat etwas in der Hand, ein kleines Kristallherz und hält es mir hin. Unwillkürlich fasse ich mir an die Brust und versuche ihm zu sagen, dass es ihm gehöre und ich auch so an ihn denken würde. Doch er ist hartnäckig. Der Vater kommt ihm zu Hilfe und ich bin zu gerührt, um etwas zu sagen. Er breitet seine Arme aus und wir umarmen uns wie alte Freunde. Ich wünsche der Familie alles Gute und sehe ihnen beim über-die-Brücke-gehen zu.
Noch heute liegt das Herz auf meinem Schreibtisch und in dunklen Stunden lass ich diese Erinnerung durch mich hindurchfließen. Natürlich habe ich den kleinen Herzensschenker nie mehr gesehen. Wo er ist, wie es ihm geht – das weiß ich nicht. Doch ich möchte ihm zu gern noch sagen: Als du mir dieses kalte Herz geschenkt hast so warm, da hast du mir eine Welt geschenkt.
© Franziska Kinskofer 2021-03-24