Das andere Geschlecht

von Florian Kalenda

Story

Rockschuppen besagt die Neonschrift auf dem langgezogenen Gebäude. Einzelne Laternen beleuchten den Parkplatz und werfen ein grüngelbes Licht auf die Fahrzeuge der Discobesucher.

Ozan steht neben seinem Fahrrad, an einen Laternenmast gelehnt. In Händen hält er ein Buch. »Man kommt nicht als Frau auf die Welt«, liest er, »man wird es.« Aha! Gilt das für Männer auch? Er grübelt so gründlich, dass er die Schritte hinter sich nicht bemerkt. Das Buch wird ihm aus der Hand gerissen. »Was hast du da?« Triumphierend liest sein Kumpel Vinz den Titel: »Das andere Geschlecht! Darüber wüsste ich auch gern mehr.«

»Ich habe es ausgeliehen, weil ich dachte, es geht um Sex«, erklärt Ozan. »Aber ich versteh kein Wort. Wo hast du das Auto stehen?« Vinz weist ans andere Ende des Parkplatzes. »Du kriegst aber auch nichts mit!« Er fischt in seiner Tasche nach einem Röhrchen und schüttelt eine gelbe Pille heraus, auf der ein Delfin zu sehen ist. »Tu das weg«, sagt Ozan. »Mit glasigen Augen kommst du nicht am Türsteher vorbei.« 

Sie stellen sich an. Nur vier Leute vor ihnen. Typisch für Sonntagabend, trotz Happy Hour. Der Türsteher blickt jedem in die Augen, lässt aber alle anstandslos passieren. Dann sind die beiden Jungs dran. »Servus Ar-Ar«, sagte Vinz. Im Telefonbuch steht Ar-Ar als Ralf Rechmann, weiß Ozan. Er hat tiefen Falten im Gesicht und ledrige Haut. Den Kampfnamen findet Ozan lässig. Er will sich auch einen zulegen. Er hat nur noch nicht die rechte Idee.

»Servus Burschen«, sagt Ar-Ar. »Seid’s nüchtern, oder?« – »Eh klar«, antwortet Vinz, »ich bin mit dem Karren von meinem Alten da.« Ozan öffnet seinen Rucksack. Ar-Ar interessiert sich nicht für das Buch mit der Büchereisignatur. Er winkt sie durch.

Zigarettenrauch und zappelnde Leiber füllen den Raum. Sie bahnen sich einen Weg. Es sind doch etliche Dutzend Leute. Lauter Alte! Die meisten mindestens dreißig. Sie wählen einen Stehtisch im dunkelsten Winkel und sondieren erst einmal die Lage. Da schau, die Isolde Pröbstl. Ozan nickt anerkennend. Die Schulschönheit schüttelt ihre blonde Mähne. Selbstverständlich direkt unter der Glitzerkugel.

Diskret holt Vinz wieder sein Röhrchen aus der Hosentasche. Beide schlucken. »Hast du ein vernünftiges Versteck gefunden?«, fragt Ozan. Es ist sein gutes Recht, das zu wissen. Er hat eine beträchtliche Summe investiert. Vinz nickt. »Im Feuerwehrhaus. Ich hol uns mal zwei Bier!« Ozan packt ihn am Arm. Er weiß, die Gelegenheit darf er nicht vorübergehen lassen. Die Arbeit auf dem Erdbeerhof war mühsam genug. Er will wissen, wo das E ist. Vinz sieht es ein. »Im Ersatzteilschrank«, zischt er. »Rechts hinten ist der Sack mit den Saugkupplungen. Da findet es kein Mensch.« Er richtet einen Zeigefinger auf Ozan. »Wenn es weg ist, weiß ich, wer es war.«

Ozan nickt. »Ich komm mit zur Theke«, sagt er. »Und dann ran an den Speck.« – »Kein Speck«, sagt Vinz, »und keine Chance.« Wahrscheinlich hat er es schon einmal vergeblich bei ihr versucht.

© Florian Kalenda 2024-01-15

Genre*
Romane & Erzählungen