Die Banshee – Teil 2

Lisa Tuscher

von Lisa Tuscher

Story

Die Banshee weinte nicht und sie schrie nicht. Sie starrte Iris nur stumm an, mit leerem ausdruckslosem Blick. Die junge Frau machte auf dem Absatz kehrt, dann hastete sie weiter. Sie war nicht schnell genug, wie sie panisch bemerkte. Ihre Beine flogen förmlich über das grobe Kopfsteinpflaster, und doch schaffte sie es nicht, ihre Verfolgerin loszuwerden. Sie konnte sie erkennen, in jedem Schaufenster, an dem sie vorbei sprintete und in jeder Gasse, an der sie vorüber hetzte. In Panik preschte sie vorwärts, immer den Todesengel im Nacken. Je schneller sie lief, desto mehr wurde ihr bewusst, dass sie die Banshee nicht abhängen konnte. Der Todesengel würde ihr so lange im Nacken hängen, bis sie sich ihm gestellt hatte. Aus ihrer Panik wurde Wut und unvermittelt blieb Iris stehen. Fuchsteufelswild drehte sie sich zu der Frau im weißen Kleid um.

„Was willst du von mir?“, brüllte sie die Banshee an. Doch die alte Frau sprach nicht, noch weinte oder schrie sie. Ihre leeren Augen gruben sich förmlich in ihren Kopf. Tapfer trat Iris zwei Schritte auf den Todesengel zu.

„Nun schrei doch endlich oder weine, verdammt!“, kreischte sie, nun vollends furios. Doch die Banshee tat nichts dergleichen. Also schrie Iris verzweifelt und weinte dann bitterlich, ohne den stummen Todesengel mit dem ausdruckslosen Blick aus den Augen zu lassen. Iris konnte nicht aufhören, zu schreien und zu weinen, bis jemand sie sanft an der Schulter berührte. Völlig aufgelöst schlug sie die Augen auf. Noch immer hämmerte ihr Herz in Panik gegen ihren Brustkorb.

„Hast du schlecht geträumt?“, konnte sie Markus neben sich grummeln hören. Sie war im Bett ihres Hotelzimmers, wie ihr Verstand nun langsam erfasste. Es war nichts weiter als ein dummer Traum gewesen! Iris grinste erleichtert, dann atmete sie tief durch. Der Schrecken der Nacht saß noch immer schwer in ihren Knochen. Unvermittelt spürte sie die eisige Kälte auf ihrem Gesicht. Mürrisch fasste sie sich an die erfrorene Nasenspitze, dann sah sie sich um. Ihr Blick fiel auf das weit geöffnete Fenster gleich neben ihrem Bett.

„Herrgott, Markus!“, stieß sie morgenübellaunig aus, bevor sie die Füße aus dem Bett gleiten ließ. Sofort grapschte die Kälte unbarmherzig nach ihren Beinen und ließ sie nicht mehr los.

„Was ist denn?“, wollte ihr Lebensgefährte grimmig von ihr wissen.

„Warum hast du das Fenster aufgemacht? Es ist eiskalt hier drin.“

„Das habe ich doch gar nicht“, protestierte er ob dieser frühmorgendlichen Anschuldigung, bevor er die Bettdecke genervt über sein verwuscheltes Haar zog. Nun vollends ungehalten, sprang Iris mit zusammengebissenen Zähnen aus dem Bett.

„Und wer soll das bitte sonst gewesen sein?“ Wütend warf sie das Fenster zu, das die Kälte hereinließ, die an ihren Beinen knabberte.

„Außer uns beiden ist…“ Abrupt verstummte sie. Kurz flackerte der Saum eines blütenweißen Kleides in der dunklen Gasse gegenüber auf, wie eine Kerze in der Nacht, bevor dessen Trägerin darin verschwand.

© Lisa Tuscher 2022-08-31

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