Die verbalen Prostituierten von Hongkong

von Nina Waldkirch

Story

Es ist 7 Uhr morgens in Hongkong. Unser Hotelzimmer ist noch nicht bezugsfertig, weshalb wir beschließen, uns die Zeit mit einem ersten Spaziergang durch die Nathan Road in Kowloon zu vertreiben.

Obwohl es früh am Morgen ist, ist die warme Luft bereits so feucht, dass ich glaube, nur meine Arme ausbreiten zu müssen, um darin schwimmen zu können – in einem Meer aus süßsauren Gewürzen. Es ist unmöglich, die einzelnen Düfte zu orten, da ich mit sinnlichen Eindrücken förmlich überschüttet werde. Wo ich auch hinblicke, überall sind Menschen. Jeder ist in Eile, huscht über die Straße, und alle tragen – damals schon – einen Mundschutz. Jedoch nicht wegen Corona, sondern aufgrund des City-Smogs. Was heute für uns alle zur Normalität geworden ist, wirkte damals noch befremdlich auf mich. Neben der undurchdringlichen, wuseligen Menschenmasse hupen sich Autos und Mopeds durch den Verkehr. Auf dem Gehweg bieten Verkäufer lautstark ihre Auslage an. Ich folge der einladenden Geste eines Lebensmittelverkäufers Richtung Schaufenster und sehe dort frisch marinierte Enten kopfüber hängen. Vom Stand nebenan dringt der fischige Geruch eines Oktopus zu mir herüber. Das schwüle, laute und bunte Treiben ist eingequetscht in Meter hohe, graue Backsteinfassaden, die so viele Menschen wie möglich auf so wenig Platz wie nötig einpferchen. Ein verfallenes Gebäude baut sich neben dem Nächsten auf. Obwohl die Stadt so groß ist, fühle ich mich eingeengt.

Dieser Widerspruch spiegelt sich in der Kultur wider. Die Tatsache, dass es kein ‚Nein‘ in dieser Sprache gibt, steht symbolisch für die Freundlichkeit der Chinesen. In ihrer Kultur ist es sehr wichtig, stets das Gesicht zu wahren. So erfahre ich bei einer Tour mit einem Einheimischen, dass hier sogar das Fluchen und Schimpfen ausgelagert wird. Das übernehmen spezielle Frauen gegen Bezahlung. Ärgert man sich also über jemanden, behält man die Wut für sich, erzählt der verbalen Prostituierten, was geschehen ist und übergibt ihr ein Foto der Person, gegen die man einen Groll hegt. Dann beleidigt sie stellvertretend das Bild, sodass der eigene Mund nicht durch die Kraftausdrücke beschmutzt wird. Obwohl diese Frauen nicht für Intimitäten bezahlt werden, haftet ihnen der gleiche Ruf wie der einer Sexdienstleisterin an. Sie bleiben ihr Leben lang unverheiratet, da sie als verdorben gelten. Prinzipiell würde ich meinen Unmut – gerade als wortaffiner Mensch – niemals outsourcen wollen, dennoch würde ich mir im vorherrschend ruppigen Deutschland oftmals wünschen, die Menschen würden hier ebenfalls ihr Gesicht wahren wollen. Es ist ein schmaler Grat zwischen Maske tragen und Gesicht wahren.

© Nina Waldkirch 2021-03-25

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