Ich weiß nicht, warum ich lebe. Und ich weiß nicht, wie ich das so formulieren soll, dass es nicht verzweifelt klingt. Denn so ist es nicht gemeint. Versuche Dir vorzustellen, wie ich das ganz gefühllos sage. Nicht gefühlskalt, nur gefühllos, ganz ohne Gefühl, ganz leer (leer, nicht einsam), da ist keine Kälte, nicht mal etwas wirklich Negatives. Diese Aussage soll nicht wertend sein, sie ist eine Feststellung. Und eigentlich nicht mal das, weil Feststellung wieder zu mächtig klingt. Als würde ich jemanden überzeugen wollen. Ihm zeigen, was ich ausgearbeitet habe und dass es diese eine Lösung gibt, mit der wir nun leben müssen. Ganz groß und starr aber auch das ist es nicht.
Ich weiß nicht, warum ich lebe.
Ich bin nicht verzweifelt.
Das ist keine Verzweiflung und dies ist kein Hilferuf. Ich muss nicht gerettet werden, niemand muss Angst haben. Ich weiß nur nicht, weshalb ich lebe.
Warum lebe ich? Warum bin ich da? Warum gibt es diese Zeit, die ich lebendig war, bin und sein werde und weshalb ist sie genauso lang wie sie es eben sein wird. Weshalb wurde ich an diesem einen speziellen Tag geboren, lebe diese Zeitspanne X und werde an diesem einen endlichen Tag sterben? Warum bin ich nicht einfach nicht da und warum werde ich irgendwann nicht mehr da sein? Warum hier und nicht woanders, warum nicht wann anders.
Ich denke seit einer Weile darüber nach und komme zu keiner Lösung, nicht einmal zu einer Idee. Ich beobachte, analysiere und begreife nicht.
Noch einmal, ich bin nicht verzweifelt. Ich denke nicht, dass ich für meine Mitmenschen eine Belastung bin, dass ich das Leben der Anderen schlechter mache und die Welt ohne mich besser dran wäre. Ich denke, es wäre einfach egal. Das ist kein Hilferuf. Ich will nicht, dass Du jetzt sagst, dass ich Dir wichtig bin. Ich will nicht hören, dass viele Menschen um mich trauern und mich vermissen würden. Dies ist kein „Wie viele Menschen würden wohl zu meiner Beerdigung kommen?“-Gedanke. Ich weiß, dass es meiner Familie wehtun würde, wenn es mich plötzlich nicht mehr gäbe. Ich bin kein Soziopath, ich begreife Gefühle. Was ich nicht begreife, ist das Leben.
© Natalie Hofmeister 2022-07-21