Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache

von Stefan Hampl

Story

Ludwik Flecks wiederentdeckte Schlüsselschrift “Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache” aus dem Jahr 1935 ist in mehrfacher Hinsicht eine Offenbarung. Thomas Kuhn, auf den der weithin gebräuchliche Begriff des „Paradigmenwechsels“ zurückgeht, sah zentrale Aspekte seines wissenschaftstheoretischen Modells durch Fleck vorweggenommen. Fleck geht davon aus, dass Wissen nie individuell, sondern stets in sogenannten „Denkkollektiven“ entsteht, die sich wiederum durch ihre „Denkstile“ voneinander unterscheiden. Dabei räumt er in einem Federstreich mit Objektivismus und Positivismus auf. De facto sei es unmöglich, Wissen an sich zu erlangen, sondern immer nur unter der Bedingung bestimmter Vorannahmen über den Gegenstand. Das bedeute nicht, dass damit wissenschaftliche Forschung von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre. Jedoch bedarf es innerhalb wissenschaftlicher Communities einer systematischeren Reflexion der getroffenen Grundannahmen und Selbstverständlichkeiten, die den Gegenstand mitkonstituieren. Als empirischen Beleg seiner Annahmen führt der Mediziner Fleck anatomische Abbildungen an. Im Vergleich der Jahrhunderte dokumentiert sich in diesen bis heute stets eine spezifische Sicht auf den menschlichen Körper und nicht (wie zu erwarten wäre) die Wirklichkeit.

Die im Buch enthaltenen biografischen Angaben zu Ludwik Fleck wecken außerdem Erinnerungen an die goldene Epoche der Habsburgermonarchie, die so treffend von Stefan Zweigs in der „Welt von gestern“ porträtiert worden ist. Fleck wurde 1896 in Lemberg, der Kronstadt Galiziens (heute Lviv, Ukraine), geboren. Dort verkehrte er disziplinen- und nationalitätenübergreifend mit Mathematikern, Philosophen und Naturwissenschaftlern. Er soll Polnisch, Deutsch, Jiddisch und Ukrainisch gesprochen haben. 1914 inskribierte er in Lemberg Medizin und forschte in den 1930er Jahren unter anderem in Wien. 1939 wurde Fleck zum Abteilungsleiter für Mikrobiologie in Lemberg ernannt. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1941 landeten er, seine Frau und sein Sohn im jüdischen Getto, wo es ihm unter primitivsten Bedingungen gelang, einen Typhusimpfstoff zu entwickeln. Mit dieser Entdeckung rettete er nicht nur das Leben vieler Gettoinsassen sondern auch sein eigenes und das seiner Familie. Nachdem die Nazis Flecks wissenschaftliche Qualitäten erkannt hatten, sahen Sie von seiner Ermordung ab.

© Stefan Hampl 2023-02-18

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