Heute lerne ich meinen Papa kennen.

Natalie Hofmeister

von Natalie Hofmeister

Story

Heute lerne ich meinen Papa kennen, heute lerne ich Dich kennen. Zum zweiten Mal, genau genommen. Ich habe Dich gekannt, bis ich drei war, jetzt bin ich 17. Das macht 14 Jahre, in denen ich Dich nicht kannte. 14 Jahre sind eine lange Zeit, besonders weil ich nur drei Erinnerungen an Dich habe.

Ich erinnere mich an einen Spaziergang, ich habe hübsche Steine gesammelt und Du hast sie in einem großen Glas aufbewahrt. Ich erinnere mich, dass ich meinen liebsten Film bei Dir sehen und dabei Süßigkeiten essen durfte. Und ich erinnere mich daran, wie Du mich in mein Zimmer geschickt hast, damit Du in Ruhe kochen konntest. Ich finde es noch immer verblüffend, wie willkürlich diese Erinnerungen sind. Wir hatten bestimmt auch viel schönere und bedeutsamere Momente miteinander, die mich zum Lächeln bringen und mein Herz leichter machen könnten, aber dies sind nunmal meine Erinnerungen. Sie nehmen nur wenig Raum ein und überlassen ganze Welten für Fantasie, Wünsche und Erwartungen. In 14 Jahren kann man genug träumen, um jemanden übermenschlich groß werden zu lassen. So groß, dass er einem die Sicht versperrt und einen Schatten auf alles Andere wirft.

Ich dachte immer, ich würde Dich kennenlernen, wenn ich 18 bin. Ich habe mir vorgestellt, wie ich Deine Adresse herausfinde, zu Dir fahre und Du bei meinem Anblick vor Freude weinst. Aber nun ist es eben heute soweit. Tränen wird es bestimmt trotzdem geben, was macht da schon ein Jahr.

Wir treffen uns in einer Kapelle, was ein merkwürdiger Ort für ein Kennenlernen ist. Aber welcher Ort wäre denn auch nicht merkwürdig, um zum ersten Mal seinen Vater zu sehen?

Vor der Kapelle warten Deine Schwester, ihr Mann und ihr Sohn auf mich. Ich kenne keinen der drei und bin mir nicht sicher, ob ich es gut finde, dass sie dabei sind, aber anscheinend war es ihnen sehr wichtig.

Sie gehen mit mir in die Kapelle und bringen mich zu der Tür, die letzte, die uns noch trennt.

Ich öffne sie, entdecke dich sofort und gehe weiter, bis ich direkt vor Dir stehe. Du trägst einen Anzug und hast die Haare ordentlich zurückgekämmt, wie es scheint, hast Du Dich extra schick gemacht. Ich schaue Dich ganz genau an, jedes kleinste Detail Deines Gesichts. Ich habe meiner Mutter nie besonders ähnlich gesehen, jetzt weiß ich, dass ich Dein Ebenbild bin. Deine Haut wirkt fahl, leicht gelblich und eine Abschürfung ziert deine linke Wange. Ich weiß, dass Du vor zwei Tagen gestürzt bist und vermute, dass sie daher kommt, ich frage Dich nicht. Deine Hände sehen auch aus wie meine, nur viel größer. Ich würde sie gern halten aber da ist eine Scheibe zwischen uns. Ich beobachte Dich lange. Eine Stunde stehe ich hier und lerne Dich kennen. Ich könnte schwören, ich hätte Dich einige Male Atmen gesehen oder den Anflug eines Lächelns erhascht. Du siehst aus, als würdest Du schlafen und jede Sekunde die Augen aufschlagen. Ich versuche, nicht zu blinzeln, weil ich den Moment nicht verpassen will. Ich habe nicht gewusst, dass Tote so aussehen.

© Natalie Hofmeister 2022-03-17

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