Inspiration finden

Helena Franz

von Helena Franz

Story

Ich sitze auf einer Bank. Am Bahnhof. Schreibzeug in der Hand. Wer wĂĽrde denken, dass dies ein guter Platz zum Schreiben ist?

Ich.

Es macht Spaß. Vertreibt nicht nur Langeweile. Ich schreibe, weil hier die Fantasie wundervoll gefördert wird. Menschen. Auch wenn ich nicht mit ihnen rede, sind sie mir ganz nützlich. Ich beobachte sie. Analysiere jedes kleinste Detail.

Zum Beispiel der Mann da drüben. Der mit der schlaksigen Statur und den Dreadlocks. Der ist interessant. Es mag ein bisschen creepy wirken, aber ich muss ihn ansehen. Einfach weil er aussieht, wie ein potentieller Buchcharakter. Die Dreadlocks hat er zu einem Dutt hochgebunden. Die Ohren sind gepierct. Aber am interessantesten finde ich seine Nase. Dieser Satz mag vielleicht merkwürdig erscheinen, aber wenn man, so wie ich, diesen Mann beobachtet hat, ist es klar ersichtlich. Er hat ein Loch in der Nase. Ja, wirklich! Zuerst hab ich auch gestutzt, aber je länger ich geschaut habe, desto klarer wurde mir, dass das so wirklich stimmt. Fasziniert betrachte ich ihn. Mit schief gelegtem Kopf kaue auf meinem Bleistift herum, so angestrengt muss ich nachdenken. Schnell ein paar Notizen gemacht und schon mache ich mich auf die Suche nach einem neuen potenziellen “Opfer”.

Schnell werde ich fündig. Wenn große Menschenmassen zu etwas nützlich sind, dann dazu, Leute zu beobachten. Die Frau auf der anderen Seite des Bahnsteigs ist ganz spannend anzusehen. Die blond gefärbten Haare fallen ihr glatt über die Schultern. Es sieht aus, als käme sie direkt vom Friseur. Sie trägt ein sehr enges, schwarzes Kleid, das knapp unter den Knien aufhört, keine Ärmel und auch keinen Ausschnitt hat. Ihre Lippen sind dunkelrot geschminkt und wohl absichtlich auf die gleichfarbigen, hochhackigen Schuhe abgestimmt. Sie steht kerzengerade vor einem ebenfalls sehr schick gekleideten Mann und scheint ihm eine Moralpredigt zu halten. Die feine Kleidung schön und gut, er lehnt trotzdem lässig an der Wand und kaut gelangweilt Kaugummi. Ich muss kichern. Ist bestimmt ihr Sohn, denke ich mir, auch wenn die beiden so gar nicht zusammenzupassen scheinen. Ein paar neue Notizen und mein Blick gleitet weiter über die Köpfe der Menschen hinweg.

Lange muss ich nicht warten, da sticht mir schonwieder jemand ins Auge. Diesmal ist es ein junges Mädchen. Sie ist ziemlich hübsch mit ihren langen brünetten Haaren und den unzähligen Sommersprossen, die sich über ihr ganzes Gesicht verteilen. Sie spielt nervös mit einem ihrer Armbänder und ihr Blick huscht alle paar Minuten zur Uhr. Sie wirkt so, als warte sie auf jemanden.

Und tatsächlich: Als der nächste Zug in den Bahnhof einfährt, steigt ein anderes Mädchen aus. Sie hat kurze, pink gefärbte Haare, die mit knallgrünen Haargummis zu Zöpfen zusammengebunden sind und trägt viele silberne Ketten um den Hals. Die beiden Teenagerinnen fallen sich in die Arme und küssen sich kurz.

Süß! Lächelnd steige ich in den Zug ein.

Ich kann mir die schönste Inspiration suchen.

© Helena Franz 2022-05-30

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Unbeschwert, Reflektierend
Hashtags