Kindheitsparadies

L D

von L D

Story

Ich steige die grauen Steintreppen des steilen Gartens hinunter. Rechts von mir ein üppig blühender Rosenstrauch, links ein paar Ribiselsträucher mit leuchtend roten Früchten. Ich gehe am knorrigen Pfirsichbaum vorbei und erinnere mich an die pelzige Haut der kleinen grüngelben Früchte, die sich jedes Mal seltsam auf der Zunge angefühlt hat.

Unten im flachen Bereich des Gartens gilt mein erster Blick dem Kirschbaum. „Amputiert“ ist das Wort, das mir bei seinem Anblick einfällt. Die Tante hatte mich vorgewarnt, dass etliche Äste abgesägt werden mussten, weil sie bereits morsch waren. Mein Ast musste ebenfalls daran glauben. Der unterste Seitenast, auf den ich als Kind jedes Mal zur Erntezeit geklettert bin, um die saftigen Herzkirschen zu erreichen. Ich blicke nach oben. In einer für mich unerreichbaren Höhe leuchten dunkelrote Früchte zwischen den grünen Blättern hervor. Ich sehe meine Cousine vor mir, die jeden Sommer mutig in die Baumkrone gestiegen ist und sich die reifsten Früchte geholt hat. Ich hatte immer schon Höhenangst. Weiter als bis zum ersten Ast wäre ich nie geklettert, selbst wenn man mir alles Mögliche versprochen hätte, was die Cousine auch hin und wieder tat. „Du kriegst zehn Schilling, wenn du ganz raufkletterst!“, schrie Moni von oben. Zehn Schilling waren sehr verlockend. So viel Geld hätte ich gern gehabt. Dafür konnte man sich zwei Twinni kaufen. Und noch Kaugummi, Brause und Stollwerck dazu.

„Lisa, kommst du dann?“, höre ich Paul rufen.

„Ja, gleich!“

Als ich auf dem Rückweg an den wenigen verbliebenen Ribiselsträuchern vorbeikomme, pflücke ich ein paar der kleinen Früchte und umschließe sie vorsichtig mit meiner Hand. Oben sehe ich meine Tante neben Paul stehen. Ihr weißes Haar leuchtet in der Sonne und bildet einen Kontrast zu ihrer schwarzen Kleidung.

„War es schön?“, fragt Paul, als ich die letzten Stufen hochschnaufe.

„Ja, sehr.“ Ich sehe meine Tante an. „Und du willst wirklich nicht mehr hinuntergehen?“

Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe mich schon verabschiedet. Außerdem will ich mir den Anblick des verwahrlosten Gemüsebeets ersparen.“ Sie seufzt. „Jetzt, wo mein Josef tot ist, schaffe ich es einfach nicht mehr, mich um das Haus und den Garten zu kümmern. Und die Moni hat ja ihre Eigen­tumswohnung, die will das alte Haus und den steilen Garten eh nicht haben.“

Ich würde es sofort nehmen, wenn ich das Geld hätte, denke ich und spüre, wie mir die Tränen kommen. Ich schlucke und halte der Tante die offene Hand hin. „Schau, für dich.“

„Oh, Ribisel. Danke.“ Sie greift mit steifen Fingern danach und steckt sie in den Mund. Ein zufriedenes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, während sie kaut.

„Es wird Zeit“, sagt Paul mit einem Blick auf die Uhr.

Während die beiden vorausgehen, sehe ich ein letztes Mal in den Garten hinunter. „Tschüss“, sage ich leise. Dann wische ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln und folge ihnen zum Auto.

© L D 2021-04-08

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