Klopfzeichen aus dem Jenseits

von Jamal Tuschick

Story
Im badisch-schwäbischen Grenzland zwischen Pforzheim und Mühlacker

„Nur Kinder glauben, dass der Teufel Hörner hat“ – Aachener Kirchenportaldetail aus dem 9. Jahrhundert. Von Karl dem Großen persönlich in Auftrag gegeben. 

„Die ersten vier Jahre führte ich ein privilegiertes, geradezu heidnisches Leben.“ John Burnside

Ein Kind nachtwandelt. Es kniet endlich vor den Devotionalien des Stubenschreins und wispert hin zur Jungfrau Maria jene formelhaften Schuldbekenntnisse, die ein erpresserischer Gott fordert. Es versteht nicht den Nutzen der Aufzählung, da Gott doch alles sieht. 

Alissa, kurz Issa, fühlt sich aufgeschmissen und ausgeliefert. Sie fürchtet nicht nur Gott, sondern auch Gespenster. Sie vernimmt Klopfzeichen aus dem Jenseits. Lauter Bedrückungen machen Issas Schafzimmer zur Schreckenskammer. Sie empfängt Nachrichten aus der Hölle. Sie sammelt aus dem Nest gefallene Waldkäuze ein und imaginiert sich als Spinne aus der Ordnung der Weberknechte, daheim zwischen einer Bruchsteinmauer und Efeu. An einer IBM-Kugelkopfschreibmaschine verfasst Issa ihre erste Geschichte. Auf der nie fertig gebauten, großelterlichen Terrasse trägt Issa schüchtern vor. Die Verwandtschaft bildet ein unkonzentriertes Auditorium. Nur Keno brennt vor Interesse für eine Leistung seine Cousine. Die beiden schlittern später am Kuchenbuffet ineinander. Das Pathos der ersten Liebe – ihre Empfindungen verschlagen ihnen den Atem. Das Begehren setzt sie unter Zugzwang. Issa und Keno synchronisieren das physiologische Geschehen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden.

Der Kindergarten, die Schule, der Verein, der Blockflöten- und der Konfirmationsunterricht sowie alles andere vom Bäcker bis zu den Pfadfindern befinden sich in einem ländlichen Rahmen. Darin erscheint jede lokale Eigenart universell. Man spricht Dialekt und glaubt, die Leute, die anders sprechen, sprechen falsch. Meistens kommt es, wie es kommen muss. Man verliert sich vor dem Gemeindehaus aus den Augen und trifft sich auf der Kirmes wieder. Da passiert es zwischen Schiffsschaukel und Anhänger. Auf einem Fahndungsplakat wird ein junger Mann zum Mitreisen gesucht. Zwei, drei Schnittmusterfehler und du landest bei den verworfenen Bögen auf dem Boden.

Es gibt keine Versicherung gegen die Anziehungskraft. Die Unerfahrenen halten sich für informiert. Kenos Beobachtungen untergraben seine Erwartungen kaum. Mit ein paar Schlenkern verschleiert er seine Absichten. Er will zu seinem geheimen Aussichtsplatz, um Issa – ungestört wie ein Falke auf seinem felsigen Hochsitz – beobachten zu können. Die Tochter seiner Tante Veronika geht ihm sogar im Schlaf nicht mehr aus dem Kopf. Keno sieht Issa ständig zusammen mit ihrer Mutter. Es gibt eine unverständliche Aufmerksamkeit der Erwachsenen. Veronika kann ihre Hände nicht bei sich behalten, wenn der Neffe in ihrer Reichweite ist. In ihren eigenen vier Wänden spielt sie dem Grünschnabel „I Put a Spell on You“ in einer Version von Nina Simone vor. Der Gast wähnt sich jenseits irdischer Barrieren in einem Himmel voller Bluesgeigen.

© Jamal Tuschick 2024-05-24

Genre*
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich
Hashtags
Liebe, Yoga, Landleben, Schwaben