SPERRLINIE

von Hubert Thurnhofer

Story
Wien

Das Befahren einer Sperrlinie kostet 80 Euro. So steht es in der Anonymverfügung, die mit einer Rechtsbelehrung endet. Natürlich nehme ich das Recht auf Einspruch in Anspruch und erwidere: ich habe die Sperrlinie nicht be-fahren, sondern über-fahren. Außerdem erscheint mir der Preis ziemlich überzogen, zumal Geschwindigkeits-Überschreitung um 20 km/h – also echte Gemeingefährdung – lediglich 50 Euro kostet.

Ein längerer Briefverkehr führte zu keinem Urteil im Sinne des Angeklagten. Meine gut fundierte Ansicht löste keinen Funken von Einsicht bei der Behörde aus, sondern lediglich eine Erhöhung der Geldbuße für jede Rückantwort, sodass ich bei 150 Euro resignierte und die Ersatzfreiheitsstrafe einforderte. Prompt erhielt ich die Vorladung in das Polizei-Anhaltezentrum Rossauer Lände – bei freier Terminwahl innerhalb der nächsten vier Wochen. Im Unterschied zu allen sonstigen Hotels der Stadt ist eine Voranmeldung nicht erforderlich, auch keine Kreditkarte musst du mitbringen, denn du bist Gast jenes Staates, der dir gerade noch 150 Euro abknöpfen wollte. So marschierte ich in die Rossauer Lände und meldete mich beim Portier mit der Bemerkung: „Hier wurde ein Zimmer für mich reserviert.“

Am Abend davor hatte ich mir überlegt, mit welchem Buch ich einen Tag und 20 Stunden verbringen wollte. Ungelesen in meiner Bibliothek warteten schon lange „Freiheit“ von Jonathan Franzen und „Satanische Verse“ von Salman Rushdie. Ich weiß nicht warum, aber mit einem Buch unter dem Arm, das die Aufschrift „Freiheit“ trägt, das Gefängnis zu betreten, erschien mir als zu provokant. So entschied ich mich für „Satanische Verse“ ohne zu bedenken, dass ich eventuell mit muslimischen Brüdern eine Zelle teilen müsse. Der Empfang war höflich. Meine Tasche wurde gefilzt. Dann musste ich mich in einem Kammerl ausziehen. Bis auf die Unterhose. Warum eigentlich bis? Drei Beamte waren mit mir eine halbe Stunde beschäftigt. Ich wurde sogar gefragt, ob ich eine Einzelzelle haben wolle. Da ich nicht als Snob auffallen wollte, entschied ich mich für eine Gruppenherberge. Die „Satanischen Verse“ durfte ich mitnehmen.

Über das Stiegenhaus begleitete mich ein Uniformierter in den dritten Stock. Hier öffnete er mir eine Zelle mit fünf Leidensgenossen: Schubhäftlinge aus Afghanistan. Circa drei Stunden später öffnete der gleiche Beamte plötzlich die Zellentür und teilte mir mit, ich müsse umgehend mein Quartier wechseln. Ein Grund wurde mir nicht genannt. Da ich davon ausging, dass die Hausordnung Recht auf Widerspruch nicht vorsah, packte ich meine Sachen aus dem Spind und mein Buch, dessen Lektüre ich schon begonnen hatte, unter den Arm. In der nächsten Zelle waren nur vier Betten belegt, von Schicksalsgenossen, die so wie ich nicht zahlungsfähig oder zahlungswillig waren. Der Raum hatte den Nachteil, dass hier ununterbrochen der Fernseher lief. Ich fügte mich in mein Schicksal. Zwei grelle Neonröhren an der Decke überströmten den Fernsehlärm, so konnte ich mich den Rest von einem Tag und zwanzig Stunden gut und recht auf meine Lektüre konzentrieren.

Über den Grund meiner Verlegung habe ich nicht weiter nachgedacht. Erst heute, da ich diese Zeilen schreibe, dämmert mir etwas.

© Hubert Thurnhofer 2024-01-18

Genre*
Humor& Satire
Stimmung
Abenteuerlich, Emotional
Hashtags
Gerechtigkeit, Recht, Ethik