Und dann habe ich angefangen, zu leben

von Simone Heydel

Story


Natürlich gibt es dazu eine Vorgeschichte. Du wachst nicht einfach auf und dein Leben ist anders als vorher.

Alles begann mit Mitte 30. Ich hatte einen Job, den ich zuerst mochte, aber dann mehr und mehr zu hassen begann. Es gab einfach keinen Sinn, der es mir leichter machte, morgens aufzustehen. Meine Beziehung war auch in einer Krise. Mir war alles zu viel.

Jeden Morgen kämpfte ich gegen die tonnenschweren Gewichte auf meiner Brust, die mich am Aufstehen hindern wollten. Spät nachmittags kam ich heim und war völlig kraftlos. Einkaufen gehen, Essen kochen, Fernsehen, schlafen. War das mein Leben? Habe ich mir das so vorgestellt?

Ich hangelte mich von Freitag zu Freitag und von Urlaub zu Urlaub. Unter der Woche jammerte ich viel und weinte oft. Am Wochenende fühlte ich mich frei und lebendig, aber war immer getrieben von der Zeit, die immer schneller zu vergehen schien. Am Sonntagnachmittag fingen dann die Gedanken an, sich wieder zu verdunkeln, der Magen zu schmerzen und sich umzudrehen.  

Ich wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, aber ich änderte nichts. Die Krankenscheine stapelten sich; die Unzufriedenheit folgte mir überall hin wie ein riesiger dunkler Schatten. Ich wollte schreien, einfach nur weg, alles hinter mir lassen. 

Die Gedanken pochten: War das schon alles? Gab es nicht noch mehr, was ich mit meinem Leben anfangen konnte? Ich war in meinem eigenen Leben gefangen.

So vergingen viele Jahre. Der tiefe Fall war nur einen Schritt entfernt, so nahe balancierte ich am Abgrund. Mein Leben war zu Ende, ich hatte keine Zeit mehr. Ich würde bald sterben und das war alles, was ich erreicht hatte.

Irgendwann hatte ich den absoluten Tiefpunkt erreicht: Ich wünschte mir eine Katastrophe oder eine schlimme Krankheit, damit das aufhört. Ich wollte nicht mehr.

Kurz vor meinem 40. Geburtstag raffte ich mich noch mal auf und legte mein Leben in die Hände des Schicksals. Ich plante, alleine nach Schweden zu fliegen, dort ein paar Tage zu bleiben und ein Konzert zu besuchen. Diese Reise sollte mein Leben verändern. Darauf setzte ich alles, was mir noch an Hoffnung geblieben war. 

Im Nachhinein betrachtet, war es die beste Entscheidung meines Lebens. Denn ich traf dort jemanden, der meine Sicht auf das Leben zu veränderte. Der mir die Augen öffnete und mich plötzlich verstehen ließ, dass ich mir mein Gefängnis selbst gebaut hatte.

Dieser eine Samstag Ende Januar brachte eine Lawine ins Rollen, die mein altes Leben unter sich begrub. Sie riss all meine finsteren Gedanken und Überzeugungen mit sich. Und dann habe ich angefangen, zu leben.


© Simone Heydel 2023-11-20

Genres
Lebenshilfe, Biografien
Stimmung
Dunkel, Emotional, Inspirierend, Reflektierend
Hashtags
#krise, #depression, #sinnkrise, #midlifecrisis, kopfausmisten