Mit den Schneeflocken kamen die Lieder.
Wie feiert man Weihnachten an einem Ort, an dem es keinen Gott gibt?
Mit den Liedern kam das Flattern. Wir schrecken hoch. Eine weiße Fahne? Eine Falle? Sie wollen uns hinauslocken, um uns sogar zu Weihnachten zu töten.
Ein Gefreiter, dem noch nicht einmal ein Bart gewachsen war, packt ein Stück Stoff. Die älteren Hasen wollen ihn davon abhalten. Ihn einen dummen Jungen schimpfen. Doch da lässt er das weiße Stück Stoff schon im Wind fliegen. So weiß, als so ein Stück Stoff in einem Graben eben bleiben kann.
Er macht Anstalten aus dem Graben zu klettern, ich reiße ihn am Kragen zurück. „Albert, haben die Ratten nicht nur an deinen Segelohren, sondern auch an deinem Gehirn genagt?!“, herrsche ich ihn an und drücke seinen Kopf aus der Schusslinie.
Er wurde erst vor Kurzem zu uns versetzt. Er kann nicht wissen, wie es hier zugeht.
Aber durch das Periskop sehen wir, wie die Briten aus ihrem Graben klettern. Ich traue meinen Augen kaum. Albert reißt sich von mir los und steigt die Leiter hoch. Wir halten die Luft an, als sie aufeinander zu gehen. Etwas unbeholfen winken sie sich zu, schütteln sich die Hände. Weitere Männer klettern aus dem Graben. Schließlich traue auch ich mich heraus.
Das Feld zwischen den Gräben ist völlig zerschossen, alles mit Stacheldraht überzogen. Und in der Mitte steht ein kleiner Weihnachtsbaum. Völlig fehl am Platz.
Ich stolpere meinen Kameraden hinterher. Was geschieht hier? Eine ausgestreckte Hand erwartet mich. Ich schlage ein. Die Befehlshaber versuchen uns immer einzureden, wir würden gegen Monster kämpfen. Aber es sind keine Monster zu sehen. Nur Männer wie wir. Durchgefroren. Kampfesmüde. Einer von ihnen hält mir ein Stück Schokolade entgegen. Dankbar nehme ich es an und gebe ihm eine Zigarette. Er nickt, lächelt mich an und zeigt seine windschiefen Zähne.
Das Weihnachtsbäumchen wird mit dem Schokoladenpapier aufgeputzt. Mit Sternen aus Holz, die einige Männer geschnitzt haben. Mit Patronenhülsen, die im warmen Kerzenlicht leuchten.
Wir singen die gleichen Lieder, in verschiedenen Sprachen.
Als alle andächtig zusammensitzen, packe ich ein Stück Papier aus und glätte es.
„Liebe Mama, ich hoffe ihr feiert ein schönes Weihnachtsfest. Drück Otto von mir und sag ihm, dass ich bald nach Hause kommen werde. Mama, ich glaube die Soldaten wollen nicht kämpfen. Unser König und unsere Generäle wollen den Krieg, denn sie sehen die Macht, das Land und das Geld. Aber sie sehen uns hier nicht in den Gräben sitzen. Die Soldaten dagegen wollen sich nicht gegenseitig umbringen. Die Soldaten wollen Frieden.
Mama, ich glaube dies wird der letzte Krieg sein.“
© Marie-Luise Lisica 2022-09-01