by Jule Klinger
Wir fahren wieder gemeinsam nach Hause und weil wir jetzt alleine sind, frage ich sie noch einmal danach. Nur wenn sie mag, kann sie gerne mehr erzählen. „Weißt du“, sagt sie, „es könnte so schön sein. Ich will auch eigentlich nicht, dass es aufhört.“ Dann wechselt sie das Thema. Doch kurz bevor ich aussteigen muss, zeigt sie mir auf ihrem Handy ein paar Bilder, die sie gemalt hat. Danach kann ich es verstehen. Ich glaube, jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, nämlich ungefähr so:
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Ich lebe nicht in der gleichen Welt, wie du. Meine Augen können gerade nicht so gut sehen, deswegen bin ich auch auf deinen Fuß getreten. Das tut mir leid! Deswegen habe ich dich aus Versehen geschubst. Entschuldigung! Ich will dir nicht wehtun. Ich weiß selber nicht, warum ich das getan habe. Eigentlich verstehe ich gar nichts. Also gehe ich jetzt besser und schlafe in meinem eigenen Bett.
Ich wache auf und neben mir liegt ein Arm. Der Arm gehört nicht zu dir, es ist meiner! Ich bin alleine im Bett. Vorsichtig strecke ich ihn mit meiner anderen Hand aus, schließe die Augen und bereite mich auf den Schmerz vor, der gleich kommt. Es fängt an zu kribbeln. Langsam kommt das Gefühl zurück. Das fremde Stück Fleisch wird wieder Teil meines Körpers. Was ist das? Ich könnte alles machen. Ich werde geliebt, werde umarmt, meine Mutter gibt mir genügend Geld. All das kann ich gerade nicht sehen. Ich schaue mich um. Schaue in deine Augen und erkenne sie nicht wieder. Das bist du und das bin ich?
Bleib doch bitte bei mir. Ich weiß, dass du deine eigenen Beine hast, deine Arme bewegen willst und dass du es nicht magst, wenn etwas Schweres auf deine Brust drückt, sodass du nicht so gut atmen kannst. Dann fühlst du dich eingeengt und willst alleine sein. Dein eigenes kleines Zimmer haben, dein eigenes kleines Essen kochen und abends willst du alleine ins Bett gehen. Dir macht es auch nichts aus, dabei an mich zu denken. Ich kann es ja verstehen. Es ist gut, mal nicht zu zweit zu sein. Dann kann man seine Gedanken sortieren. Aber gerade sind so viele Menschen um mich herum. Ich kann mich nicht konzentrieren. Es ist so laut, wer bin ich überhaupt?
Eigentlich bin ich gar nicht alleine. Du bist doch da. Ich kann es gerade nur nicht erkennen, weil es so dunkel im Zimmer ist. Ganz leise stehe ich auf. Ganz vorsichtig ziehe ich mich an und versuche, dich nicht aufzuwecken. Es ist erst fünf Uhr morgens, aber ich muss heute früh aufstehen, weil ich in die Arbeit muss. Zum Abschied gebe ich dir einen Kuss auf die Stirn, wir sehen uns in ein paar Tagen wieder. Ich bin spät dran und renne los, damit ich die Bahn nicht verpasse. Ganz außer Atem komme ich an. Die ganze Zeit über denke ich nur an dich. Du wirkst so weit weg, als ob du nur noch so groß wie mein Daumen wärest.
© Jule Klinger 2023-09-01