Seit Jahren schenkt mir meine Schwester jedes Jahr zu Weihnachten das gleiche Geschenk: Sie lädt mich einige Tage vor Heiligabend zum Weihnachtskonzert in der Philharmonie ein.
„Dann ist es erledigt“, sagt sie immer, aber meint es nett.
Wir mögen diesen Abend. Wir bereden Wochen im Voraus, was wir tragen werden und kaufen uns in der großen Pause den 3 Euro teureren Champagner, anstelle des Sektes.
Vor einigen Wochen rief sie mich an, um mir mitzuteilen sie hätte sich in jemand anderen verliebt und wolle ihren Mann verlassen. Nach dem Telefonat wusste ich, dass die Zukunft, an die ich so lange geglaubt hatte, nicht mehr existiert. Plötzlich musste ich in allen Tagträumen über kommende Momente etwas verändern. So als würde ich nach dem Schreiben eines Romanes noch einmal den Namen eines Hauptcharakter ändern.
Dieses Jahr haben wir unsere Outfits nicht besprochen. Sie kommt zu spät und trägt nicht einmal hohe Schuhe. Weil die guten noch bei ihrem Ex-Mann in einer Kiste liegen, meint sie. Wir werden trotz der Verspätung noch reingelassen, weil wir Logenplätze haben. Immerhin.
Sie sitzt eng neben mir, ich kann den Samt ihres Kleides an meiner nackten Schulter spĂĽren. Aber ich kann sie nicht finden.
Der Dirigent wird jedes Jahr älter. Mittlerweile kann er kaum noch gehen. Aber sobald er anfängt mit seinen Handbewegungen die Klänge zu formen, sieht es aus als wäre er plötzlich ein Hochleistungssportler in seinen besten Jahren. Ich lächele, weil ich das poetisch finde. Dass seine Leidenschaft seinen Körper so überlisten kann. Und ich frage mich, ob das der Beweis dafür sein könnte, dass einfach alles eine Illusion ist.
Das Orchester stimmt ein bekanntes Weihnachtslied an. Ich beobachte, wie die Geigenstöcke in einem perfekten Gleichtakt auf und ab schwingen. Das war schon als Kind mein Lieblingsteil am Orchester, diese hypnotisierende Perfektion. Danach singt der Chor ein Lied, das ich nicht kenne. „Ein geistliches Abendlied“ heißt es. Ich sehe wie sich die Münder der Kinder zur gleichen Zeit öffnen und finde, dass ihre Samtanzüge perfekt zu der hölzernen Verkleidung des Saales passen.
„Es ruht die Welt im Schweige,
Ihr Tosen ist vorbei,
Stumm ihrer Freude Reigen,
Und stumm ihr Schmerzenschrei.
Hat Rosen sie geschenket,
Hat Dornen sie gebracht
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht!“
Ich fühle, wie eine Träne mein Auge verlässt, um auf meinen Wimpern zu balancieren, bevor sie auf meiner Wange tropft. Ich spüre immer noch den Samt ihres Kleides und hoffe, dass sie die Träne nicht entdeckt. Ich weiß plötzlich weihnachtlicher als jetzt wird es dieses Jahr nicht mehr werden. Und näher werde ich ihr nicht mehr sein.
© Céline Zimmer 2022-12-22