Jetzt würde ich sie wegballern. Erst die Klausur und dann sie. Nun aber Konzentration!
Ich konnte förmlich spüren, wie mich ihre schwarzen Augen fixierten.
Fokus!
Ob sie mich noch anschaute? Meine Güte! Wo war nur mein Hirn? Ohne es zu wollen, schielte ich kurz nach oben, um mich zu versichern, ob ihre Pupillen noch an mir klebten. Jup – sie taten es. Schnell richtete sich mein Blick wieder auf meine bisher ungelösten Aufgaben.
„An dieser Stelle möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass die Hälfte Ihrer Zeit vorbei ist.“
Ich schreckte kurz zusammen. Einerseits, weil ich definitiv nicht gut in der Zeit war, andererseits, weil ihr russischer Akzent immer ein wenig beängstigend klang. Auch neben mir zuckten mehrere Schulterpaare kurz zusammen. Ich holte tief Luft. Wenn ich dieses Semester schaffen wollte, musste ich nun mit der Rechnerei loslegen.
Klack, klack, klack – sie bewegte sich. Langsame, sehr bestimmte Schritte auf hohen Schuhen. Sie kam näher. Nicht aufschauen. Sie blieb vor meinem Tisch stehen. Ich blinzelte kurz direkt vor mir auf ihren, in einen schwarzen Hosenanzug eingekleideten Schritt. Ein Schwall ihres viel zu starken Parfums kam mir entgegen. Für einen kurzen Moment meinte ich niesen zu müssen, aber ich konnte mich beherrschen. Nach endlosen drei Sekunden marschierte sie endlich weiter. Im Vorbeigehen streifte sie mit ihren langen, rot lackierten Fingernägeln kurz meine Schulter. Was hatte ich mir da eingebrockt? Dieses kleine bisschen Spaß würde mich noch mein Studium kosten.
Immer mit der Ruhe. Ich konnte die Klausur auch in einem zweiten Versuch bestehen. Nächstes Semester. Bei einem anderen Dozenten.
„Zweiter Versuch“ … allein die Zahl Zwei klang nach einem einzigen Versäumnis.
„Frau Ivanow?“, rief einer der Nerds aus der hintersten Reihe. Klack klack klack – ihre Schritte bewegten sich Richtung Nickelbrille. Das war meine Chance. Sie war beschäftigt und ich konnte endlich mein Gehirn einschalten. Ohne ihren Blick im Nacken fokussierte sich binnen weniger Sekunden mein gesamter Verstand auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Ab jetzt arbeiteten meine Gehirnzellen auf Hochtour. Normalweise hatten sie sonst auch keine Probleme dies von Anfang an zu tun. Nur heute war ihnen der Zugang zum Arbeitsmodus durch eine Mathe-MILF verwehrt geblieben. Egal, nun waren sie drinnen und würden sich bis zum bitteren Ende durch die Aufgaben beißen. Im Prinzip funktionierten sie wie Sperma.
Nach einer halben Stunde hardcore-brain-workout riss mich die russische Pornostimme aus meinem Fokus.
„Ich bitte Sie nun zum Ende zu kommen.“
Alle standen auf. Mir war bewusst, dass ich es nicht tun konnte und mir war auch bewusst, dass ich mein Verweilen gut tarnen musste. Ich brachte als letzter meine Klausur zum Dozentenpult. Anschließend ging ich langsam zu meinem Arbeitsplatz zurück und packte in Zeitlupe meine Tasche. Dann waren alle weg. Sie schloss hinter ihnen ab. Ein Kribbeln machte sich in meinem Körper breit. So sehr meine Vernunft mir sagte, dass ich vor wenigen Wochen mit meinem Charme einen Schritt zu weit gegangen war und ich lieber gehen sollte, gab mir mein Körper ein eindeutiges Signal: Bereit für ein bisschen Shades of Iwanov.
© Charlie Sprengel 2023-06-05