Die Brücke

Corinna Winter

by Corinna Winter

Story

Ob das Jenseits ein Ende hatte? Würde sie irgendwann auf etwas anderes treffen als trockene Felder? 

Eva hatte keine Ahnung. Aber zum ersten Mal störte sie das nicht. Sie hatte alle Möglichkeiten. Ja, es war einsam, ein bisschen langweilig vielleicht, aber es war bei weitem keine Hölle. Zwar hatte sie sich ihr Leben nach dem Tod nicht so vorgestellt, als einsamer Wanderer in den Weiten des Nichts. Aber sie hätte es schlimmer treffen können. Also ging Eva voran, sah sich um, und entdeckte doch nur Ödland. Bis sie an eine Klippe gelangte. Vor ihr tat sich ein Abgrund auf, unendlich und dunkel. Sollte sie nun nach links oder rechts? Was machte es schon? Sie entschied sich für eine Richtung und machte sich auf den Weg. Wie lange sie gegangen war, wusste sie nicht zu sagen. Die Zeit verging hier anders. Doch erneut erblickte Eva etwas Unerwartetes. Eine Brücke. Sie spannte sich über den Abgrund, aber ihr Ende verschwand am Horizont. Neugierig beschleunigte sie ihre Schritte, doch sie schien sich von der Brücke zu entfernen. Bis sie plötzlich davor stand. Dann erkannte Eva, dass die zunächst imposante, breite Brücke mit jedem ihrer Schritte schmaler geworden war. Nun war nur noch ein dünnes Drahtseil übrig. Sie beugte sich vorsichtig über den Rand. Tatsächlich nur ein Drahtseil, also murmelte sie: “Was zum…?”

“Nie im Leben”, brummelte sie, kicherte dann aber, denn sie war ja tot. 

“Auf der anderen Seite erwartet dich das Paradies. Hier wartet nur Verdammnis”, ertönte eine tiefe Stimme. Eva wirbelte herum, sah aber niemanden. Sie war immer noch allein. Dennoch war sie neugierig. Aber sie war nie sportlich gewesen, also setzte sie ganz vorsichtig einen Fuß auf das Drahtseil. Sofort kam starker Wind auf, der an ihrer Kleidung riss. Hastig wich Eva zurück und keuchte mit klopfendem Herzen: “So stürze ich garantiert ab.” 

“Das Schicksal der Ungläubigen. Ein Gläubiger hätte seine Brücke vorgefunden”, verriet die Stimme. Eva verzog das Gesicht, aber sie lugte erneut in die Dunkelheit: “Was ist da unten?” 

“Verdammnis”, sagte die Stimme war kalt, Nun schnaubte Eva: “Nein, danke. Da mache ich nicht mit.” 

Sie schüttelte den Kopf und ging. Ewige Verdammnis konnte sie auch hier in der Einöde haben, wo es wenigstens etwas zu entdecken gab. Entschlossen schritt Eva voran, entfernte sich von der Brücke und dem Abgrund. Und wenn sie die gesamte Hölle kartographieren würde… Der Gedanke amüsierte sie, verging aber, als sie mitten auf einem brachen Feld einen Torbogen sah. Er strahlte Licht ab, blendete sie. War dies das berühmte Licht am Ende des Tunnels? Sollte sie ins Licht gehen? 

Eva lächelte, denn es war ein Abenteuer. Sie trat durch den Torbogen und Licht und Wärme umfingen sie.

© Corinna Winter 2023-05-24

Genres
Novels & Stories, Science Fiction & Fantasy
Moods
Mysteriös, Reflektierend
Hashtags