„Der Zusammenbruch des Ostens ist nur der Prolog für den Zusammenbruch des Westens.“ Heiner Müller
„Beschreibung ist Mord am Gegenstand.“ HM
Gero ‚Geronimo‘ Mansfeld ist HVA-Major und Offizier im besonderen Einsatz. Hauptberuflich durchkämmt Geronimo die Betten der Berliner Boheme. Er macht einen guten Job in der totalen Mühelosigkeit. Geronimo gleitet wie ein Hai durch das abgesoffene Pankower Endmoränental. Sein Mount Everest ist der Prenzlauer Berg.
Ich erwache in einem Gliederknäuel. Das Ehebett der Schneiders neigt sich wie eine Rutsche. Zwei Beine liegen gebrochen am Boden. Klaus‘ Geliebte schläft auf dem Vorleger. Sodom und Gonorrhoe. Erika umarmt eine Magnumflasche Whisky (Westimport). Klaus hat mal wieder seine eigene Frau Inge viel lieber als alle anderen, deshalb liegt er neben ihr. Das ist nichts Neues. Wir sind alle im besonderen Einsatz, Inge, Klaus und ich. Für alle, die nicht auf dem Laufenden sind: Inge und Klaus Schneider, hauptamtliche Staatssicherheit, getarnt als Gelehrte, unterhalten in einer Wohnung hoch über der Dimitroffstraße (heute Danziger Straße) im Bezirk Prenzlauer Berg einen literarischen Salon. Erika ist ihnen zugelaufen, als schwer interessierte westdeutsche Linke, das Lächerlichste, was die BRD zu bieten hat. Aber das sagt keiner.
Offiziell ist die Schneiderehe am Ende. Doch, wenn ich mir Klaus so angucke. Seine Eifersucht ist auf jeden Fall echt und nicht ungefährlich. Ich steige über Erika hinweg, im Korridor liegt einer, der wegen Beihilfe zur Vorbereitung des ungesetzlichen Grenzübertritts gesessen hat. Das ist die verdichtete Unterschiedlichkeit von 1986. Bernd wurde im Gefängnis zum Lyriker, ich fand seine Knastschoten gestern Abend gelungener als die Gedichte.
Ich koche Kaffee und lasse Luft in die Küche. Inge kommt fröstelnd nach, sie schließt die Arme vor der Brust. Sie ist die entschlossenste DDR-Bürgerin auf der ganzen Welt. Eine Tschekistin ohne Ach und Weh. Sie begrüßt den imperialistischen Schutzwall jeden Morgen. Wir sind unter uns, Inge zieht blank. In meinen Augen vergrößert das ihre Glaubwürdigkeit und bestätigt ihre Integrität, vermutlich könnten das auch Purzelbäume von ihr bewirken. Sie hat so eine Art (leise Drohungen im Abgang), mir zu sagen, dass es unter uns kein Gleichgewicht des Schreckens gibt. Zwischen Inge und mir findet eine Nähe statt, die könnt ihr euch nicht vorstellen. Sie rührt daher, dass Inges promovierte Skepsis gegenüber den großmäuligen Kulturlappen, die bei ihr ein und aus gehen, keine hohle Gebärde ist. Uns verbindet die Einsicht, dass diese – von verschmähter Liebe gemästeten – Leute der DDR, also uns jederzeit in den Rücken fallen würden. Trotzdem hofieren wir sie, und werden das bestimmt noch bereuen. Oft denke ich: jetzt, wo wir die Macht noch haben, sollten wir sie auch nutzen. Miyamoto Musashi sagt: „Es wäre bedauerlich, mit einer nicht gezogenen Waffe im Gürtel zu sterben.“
© Jamal Tuschick 2024-06-27