Laura

Rosalie Piveteau

by Rosalie Piveteau

Story

Es war ein Nachmittag, der den Winter ankündigte, als ich Laura zum ersten Mal sah. Der Himmel war so grau wie der Asphalt und vermittelte den Eindruck, die Welt sei eindimensional. Wir stiegen in einer kleinen Stadt im ehemaligen Ostdeutschland aus der Straßenbahn. Wir wurden von meiner Freundin Camille begleitet, eine üppige Rothaarige mit schriller Stimme.

Es war Camille, die ich als Erste kennengelernt hatte. Wir waren Erasmus-AustauschstudentInnen von derselben französischen Universität und wie es in solchen Fällen üblich ist, lernen sich die Expats schließlich alle über Facebook-Gruppen kennen. Camille hatte wohl zu mir gesagt: « viens, allons-y ensemble, mon amie Laura sera avec nous ». Wir wollten zusammen irgendwohin gehen und Laura wollte uns begleiten.

Laura hätte in dieser Szene eigentlich nur die Rolle der Begleiterin der Hauptfiguren spielen sollen. Aber von dem Moment an, als ich sie sah, wurde es sofort zu meiner Priorität, ihre Freundin zu sein. Alle anderen Begegnungen mit den Expats hatten ihren Reiz verloren und würden ihn für immer verlieren. Von einer Hauptrolle wurde Camille in einer Sekunde zur Statistin in einer Szene, die ihr gerade entglitten war.

Als ich Laura sah, dachte ich sofort an Catherine Deneuve. Eine falsche Assoziation, denn Laura hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der Schauspielerin. Ihre blonden Haare und ihr opalfarbener Teint mussten in meinen Augen die gleiche kühle Schönheit ausstrahlen. Oder ihr sanfter, aber unergründlicher Blick erinnerte mich an Belle de jour, einen Film, der mich fasziniert hatte. Sie war sehr zierlich, aber die Wirkung, die sie auf die Menschen hatte, die ihr begegneten, war kolossal. Ihre schönen blassblauen Augen mit dem schwarzen Eyeliner schienen mich aus großer Entfernung anzuschauen, als wäre sie ganz bei sich, würde plötzlich meine Anwesenheit bemerken und mich mit einem Blick beglücken.

Sie hatte eine strenge Erziehung gehabt, von der sie sich tadellose Manieren und eine natürliche Eleganz bewahrt hatte. Sie war sorgfältig gekleidet und mied die Billigläden, um das Studentenbudget ihrer Eltern für teure Kleidung und Chanel-Make-up auszugeben. (Pauvre Camille, nachdem sie Laura kennengelernt hatte, war sie jeden zweiten Tag auf Diät, in der Hoffnung, die gleiche Schlankheit zu erreichen.)

Die Erinnerung an unsere Begegnung ist nur ein Bruchstück in meinem Gedächtnis. Wir steigen aus der Straßenbahn aus, ich sehe Laura an und möchte sie sofort kennen. Ich möchte ihre beste Freundin sein. Sie scheint die Verkörperung eines geheimen Universums zu sein, das mich schon immer fasziniert hat.

Es dauerte nur wenige Wochen, bis wir unzertrennlich wurden. Wir waren in unserer glühenden Sensibilität gegenüber der Welt vereint. Mit Laura hatte ich das Gefühl, dass dieser dunkle, unbewusste Teil von mir, der in einer Ecke lauerte, seinesgleichen gefunden hatte.

© Rosalie Piveteau 2024-03-03

Genres
Novels & Stories