Plattenbau

Temperaturtief

by Temperaturtief

Story

Grauer Beton, dreckige Fenster, Granittreppen. Willkommen im Plattenbau. Es ist nicht schön, dass soll es auch nicht sein. Dafür wurden diese Gebäude nicht konstruiert, es gilt Effektivität vor Ästhetik. Die Betonklötze stehen in so vielen Städten, wie eine unschöne Erinnerung an die Realität. Und trotzdem verbinde ich so viel mit ihnen. Sie sind meine Inspiration, ich finde irgendetwas an ihnen. Manchmal setzte ich mich einfach ins kalte Treppenhaus und gucke zu, wie die Menschen ihrem Alltag nachgehen, regelrecht nach hetzten. Sie versuchen Schritt zu halten mit ihrem Leben, den Sinn hinter ihren Handlungen zu finden, die Balance zu halten. Zumindest stelle ich mir das vor, wenn sie an mir vorbeirauschen. Fast immer sind sie in Eile, manche tragen Tüten unterm Arm, manche grüßen freundlich, andere ignorieren mich. Vielleicht sehen sie mich auch einfach nicht. Oder sie wollen mich nicht sehen. Im Plattenbau gibt es wirklich die unterschiedlichsten Arten von Menschen. Zum Beispiel der Typ mit Brille aus dem 5. Stock. Er dürfte jetzt Mitte 50 sein. Ich glaube, er ist Lehrer. Zumindest würde es zu ihm passen. Rein äußerlich betrachtet natürlich. Er grüßt mich immer. Oder die Frau aus dem Erdgeschoss. Sie hat eine unfassbar lange Lockenmähne. Ich schätze sie nicht älter als 40. Das einzige, was ich über sie weiß ist, dass sie alleinerziehende Mutter von einem kleinen Jungen ist. Sie grüßt mich nicht immer verbal, aber sie lächelt. Der Mann aus dem 7. ist mir mitunter am sympathischsten. Er ist Student und wenn man ihn im Treppenhaus trifft, hat man eine 98 % Chance, dass er in Jogginghose den Müll von Samstagnacht runterbringt. Manchmal bringt er mir eine übrige Pizza vorbei. Und dann gibt es noch eine ältere Dame, sie wohnt fast ganz oben. Es ist schon fast unmenschlich eine so gebrechliche Dame so viele Treppen laufen zu lassen. Manchmal, wenn ich wieder auf den Treppen sitze mit meinen Badelatschen die provisorisch zu Hausschuhen umfunktioniert wurden, redet sie mit mir. Über alles und nichts gleichzeitig. Und manchmal lädt sie mich zu sich ein. “Auf ein Tässchen Kaffee, Herzchen?”. Ich glaube, ihr Mann lebt nicht mehr. Zumindest ist sie alleine in ihrer kleinen Wohnung. Es tut mir schon leid, deswegen gehe ich eigentlich so gut wie immer zu ihr hoch. Dann sitzen wir auf ihrer geblümten Sofagarnitur und sie liest. Sie liest meine Geschichten, meine Entwürfe. Ich drucke die Seiten aus, weil sie technisch nicht so erfahren ist. Und wenn sie fertig ist, legt sie das geschriebene beiseite und guckt mich an. “Ach, Herzchen. Das war wieder ganz wunderbar.” Sie ist die einzige, die je meine Geschichten gelesen hat. Sie hat sich auch nie beschwert, dass ich so viele ‘Schimpfwörter’ eingebaut habe. “Es ist eben dein persönlicher Schreibstil.” Irgendwann kam sie nicht mehr, lud mich nicht mehr ein. Ich war klingeln. Sie ist tot, gestorben an Herzversagen. Es macht mich schon traurig, dabei kannte ich nicht mal ihren Vornamen. Diese alte Dame hat mir wirklich etwas bedeutet. Sie hat mich in gewisser Weise inspiriert und mich unterstützt. Aber so ist das Leben, scheinbar endlos und trotzdem endlich. Grau und trotzdem gemütlich. Unangenehm aber trotzdem interessant. Genauso wie der Plattenbau.

Willkommen in der Sammlung eben dieser Entwürfe die ich Frau Koppo vorgelegt habe. Ich hoffe, es gefällt euch genauso, wie es ihr gefallen hat.

© Temperaturtief 2024-01-02

Genres
Novels & Stories
Moods
Dunkel, Entspannend, Angespannt, Adventurous, Inspiring