Wer, bitte, ist diese Sally? Warum muss sie warten? Und worauf?
Drei Fragen, ein Song. Noel Gallagher, Lead Gitarrist der Britpop-Band OASIS, hat ihn geschrieben. Die Single Don’t Look Back in Anger rast 1996 an die Spitze der irischen und britischen Charts – kein Wunder, bei dem stürmischen Refrain: And so Sally can wait / She knows its too late as we’re walking on by / Her soul slides away / “But don’t look back in anger” I heard you say … Auch Noel weiss nicht, wer Sally ist. Er hat sich nur gedacht: Wäre nett, eine Frau in diesen Song zu packen. Zum Beispiel eine, die Sally heißt. Sally klingt irgendwie gut. Take me to the place where you go / Where nobody knows if it’s night or day. Immerhin erklärt uns Noel die Song-Botschaft: „Regt euch nicht über Dinge auf, die Ihr gestern gesagt oder getan habt. Stellt euch nicht vor, was alles hätte sein können. Blickt besser nach vorne.“ Und hey, Liam und Noel, die zerstrittenen Brüder aus Manchester, haben sich wohl den eigenen Song zur Brust genommen, als sie unlängst die Oasis Reunion verkündet haben. 2025 gehen sie nach 15 getrennten Jahren gemeinsam auf Tour. Womöglich schließt sich Sally an. Mit Vorsicht, wohlgemerkt, warnt doch der Song vor zuviel Nähe: Please don’t put your life in the hands / Of a Rock n’ Roll band / Who’ll throw it all away.
Noel trägt auf dem offiziellen Song-Video die ikonischen runden Lennon-Sonnenbrillen, und er sieht John zum Verwechseln ähnlich. Auch der Klavier-Part zum Einstieg hält sich verblüffend eng an Lennons „Imagine“. Motto: Besser gut abgekupfert als schlecht erfunden. Oasis wurde immer wieder dafür kritisiert, Teile aus fremden Songs „auszuborgen“. So klingt Don’t Look Back in Anger stark nach etwas, das von den Beatles stammen könnte. Ganze Textpassagen sind von Lennon gestohlen, wie Noel offen zugibt. Er war nämlich an illegale Tonbandaufnahmen mit biografischen Notizen Lennons aus dem Dakota Hotel gelangt. In ihnen spricht John u.a. davon, „eine Revolution von seinem Bett aus zu starten“ (schon tauchen vor dem geistigen Auge John & Yoko mit ihren 1969er „Bed-Ins“ auf). So I start a revolution from my bed / ‘Cause you said the brains I had went to my head … Trotz dieser fragwürdigen Methoden erntet Don’t Look Back in Anger im zweiten Oasis-Album „(What’s The Story) Morning Glory“ 1995 Lob von der Musikkritik und stürmt die Charts. Jenseits des kommerziellen Erfolges ist der Stellenwert von Don’t Look Back in Anger auch ein historischer: Nach dem Manchester Arena Bombing wird der Song zur Wiederauferstehungs-Hymne einer ganzen Gesellschaft: Im Gedenken an die 22 Todesopfer des islamistischen Massakers performt Chris Martin von Coldplay den Song beim „One Love Manchester”-Konzert im Juli 2017 mit Bandkollegen Jonny Buckland und Ariana Grande – und gemeinsam mit Millionen Konzertbesucher:innen. So schließen sich Kreise: von John Lennons Vision einer gewaltfreien Welt über ausgeborgte Klavierparts und gefladerte Textzeilen hin zum kraftvollen künstlerischen Zusammenschluss im Angesicht des Terrors. Musik eint, wo Gewalt spalten will. Manchester blickt nach vorne, nicht zurück. So Sally can wait. Möge die Reunions-Übung der Brüder gelingen. Oder auch nicht, Schlagzeilen machen sie sicher. Ach ja: Sollten Sie Sally irgendwo da draußen treffen, richten Sie ihr bitte aus: Sie hat einen grandiosen Refrain.
© Beate Schilcher 2024-10-02