Silvester

Leonie Winkler

by Leonie Winkler

Story
Silvester in der Traumwohnung

Winter hat meine Farben erfroren. 
Finde ich jemals wieder zurück
An meinen Ort vom seeligen Glück? 
Werde ich in Flammen wieder geboren? 
Oder ist schon alles verloren? 

Mit der U-Bahn fahre ich mein zukünftiges Ich besuchen. Im meinem alten Stadtteil muss ich umsteigen. Vor ziemlich genau vier Jahren habe ich hier gelebt. Es trifft mich tief, als ich aus der Bahn aussteige und den Himmel in der Dämmerung sehe. Es ist der gleiche hellblau-graue Himmel mit lila-schwarzen Wolken. Es liegt dieser spezielle Geruch in der Luft. Ich lege die Musik von damals auf meine Ohren und dann bin ich wieder zurück in meiner Einzimmerwohnung. Das erste Mal alleine in der großen Stadt. Die schwarzen Schatten in Form von Bäumen und Häußern hüllen mich ein. Ich verpasse die nächste Bahn. Das macht mir nichts. Ich erlebe mein altes Leben ein zweites Mal.

Bald bin ich an meinem Ziel angekommen. Ich mache mich auf den Weg durch das Treppenhaus des Altbaus bis in den vierten Stock. Sie begrüßt mich mit einem Glas Weißwein in der Hand. Küsschen links, Küsschen rechts. Gut gealtert, elegantes Kleid, lockere Hochsteckfrisur. Die Wohnung wirkt wie aus einem Film. Vier Zimmer, Küche, Bad und eine riesige Dachteresse. Im Wohnzimmer sitzen drei Freundinnen an einem Puzzle und trinken Rotwein. In der Küche steht ein Paar. Er trägt einen Anzug und wirkt so gestresst, dass er ihr Unwohlsein nicht zu bemerken scheint. Stattdessen unterhält er sich mich einem Mann, der einem berühmten Astronomen, der sich kürzlich für Klimaschutz einsetzt, ähnelt.
Die Gastgeberin führt mich zur Dachterasse. Im Vorbeigehen erhasche ich einen Blick auf einen attraktiven jungen Mann, der mit einer jungen Frau mit wasserstoffblondem Haar flirtet. Draußen ist es wesentlich wärmer als gedacht. Irgendwo müssen Heizstrahler stehen, nur wo?
“Ich würde dir gerne meine Tochter vorstellen, sie ist über die Feiertage aus Stockholm angereist”, die Gastgeberin holt mich aus meinen Gedanken.
Ich gebe einem Mädchen, Anfang zwanzig, die Hand. Ein sanfter Händedruck, wie der eines Häschens. Neben ihr stehen zwei Mädchen ungefähr in ihrem Alter mit Zigaretten in den Händen. Schnell vertiefen sich die drei wieder in ein Gespräch: “Du erinnerst dich nur an einen Traum, wenn du das Problem nicht lösen konntest. Schwarze Träume bedeuten, dass du dich nicht erinnerst und somit keine Sorgen hast”, höre ich eine der Raucherinnnen noch sagen. Ich gehe weiter. Auf einer Sitzbank sitzen zwei Frauen, wobei eine davon aussieht, als wäre sie gerade aus Bali angereist und auf die andere einredet, als könnte sie deren Trauer mit Worten löschen.
“Vielleicht sollte ich auch nach Irland ziehen. Russland war so deprimierend”, schnappe ich noch von zwei Frauen am Geländer auf, dann finde ich die Gastgeberin wieder.
“Jede Entscheidung kann alles verändern. Siehst du meine Freunde hier? Das alles hättest du sein können.”

Früher hat es mich vor den Vögeln gegraust.
Mit der Kunst vom federleichten Fliegen
Schienen ihre Fähigkeiten meine zu überwiegen.
Es hat alles nur in meinem Kopf gehaust. 
Es erhebt sich aus der kalten Asche empor,
Was ich vor langer Zeit verlor.

© Leonie Winkler 2023-08-30

Genres
Novels & Stories
Moods
Hoffnungsvoll, Inspirierend, Unbeschwert
Hashtags