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Mondfinsternis am Wiener Gürtel

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Mondfinsternis am Wiener Gürtel | story.one

Auf einem verbogenen Kartonaufsteller werden zwei Happy Hours angekündigt: eine von 19 bis 21, die zweite von 22 bis 24 Uhr. Eine Gruppe Engländer sitzt an einem der Tische. Während die U6 planmäig ein paar Meter über ihren Köpfen vorbeirauscht, nippen sie vorsichtig an ihren Gin Tonics, etwas verwundert darüber, dass so wenig los ist. „Haben Sie Wien schon bei Nacht gesehen?“, singt Reinhard Fendrich über die alten Lautsprecher, doch die Briten verstehen ihn nicht. Es ist eines dieser Gürtelbögenlokale, dessen Namen man sich nie merken kann, obwohl man immer wieder dort landet. Das Fluchtachterl erfüllt hier tatsächlich seine Bestimmung als letzter Drink des Abends. An Bilder wie diese denken junge Touristen aus Berlin und Amsterdam, die zwei Tage auf Besuch kommen und die Stadt für die langweiligste der Welt halten. Man möchte sie hinauszerren, in das verzauberte Wien aus Beyond Sunrise und dem Dritten Mann, weg vom ernüchternden Sound of Music. Ein junges Mädchen sitzt neben mir. Ihr Freund hat heute mit ihr Schluss gemacht, und für ein zwanzigjähriges Leben bedeutet das zumindest einen Abend lang das Ende. Sie erzählt mir, dass er doppelt so alt ist wie sie, aber nur halb so erwachsen. Zwölf Monate sind sie zusammen gewesen, nie haben sie etwas unternommen, getroffen haben sie sich fast ausschließlich bei ihm oder ihr zu Hause, um Wein zu trinken und miteinander zu schlafen. Nur einige wenige Male haben sie sich in der Stadt verabredet, und dann immer in schäbigen Bars wie dieser. Genau an diesem Tisch hat sie ihn an einem dieser kostbaren Abende gefragt, ob er sich schon einmal überlegt habe, wo der Mond herkommt. Ja schon, habe er geantwortet, aber eigentlich reiche es ihm zu wissen, dass er immer da sei. Sie wusste nicht, ob das nun pragmatisch oder poetisch auszulegen war. Warum man mit jemand zusammen ist, für den man sich schämt, möchte sie von mir wissen, aber diese Frage kann ich ihr auch nicht beantworten. Sie zündet sich eine Zigarette an und blickt durch das verdreckte Fenster der Bar hinaus in die scheinbar endlose Ferne des Asphalts, obwohl diese bereits am Häuserblock der gegenüberliegenden Straßenseite endet. Die Eingangstür öffnet sich, der Exfreund des jungen Mädchens tritt ein. Immer noch sind alle da und sehen nun von ihren Getränken hoch. Im Unglauben darüber, dass hier heute doch noch etwas passiert, erwachen auch die Briten aus ihrer Totenstarre. Der Exfreund steht in der Tür und wird von den Scheinwerfern der vorübergleitenden Autos in ein gleißendes, schnell wieder verlöschendes Licht getaucht. Die beiden sehen sich an, keiner spricht ein Wort. Nachdem alles gesagt ist, streckt er seine Hand aus, nach einem winzigen Zögern ergreift sie diese. Erst jetzt setzt er sich. Es ist Mitternacht, obwohl die zweite Happy Hour vorbei ist, bestellt er noch einen Drink, während ich meinen austrinke und die Engländer und alle anderen sich bereit machen, nach Hause zu gehen.

© Andreas Rainer 2022-03-16

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