Therapiert II
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Ich suche schon sehr lange nach einer neuen Heimat. Ich bin ziemlich viel rumgekommen, habe studiert, alle möglichen Jobs gemacht. Jetzt wohne ich mit meinem Freund in einer wunderschönen Stadt und einer wunderschönen Wohnung. Alles ist geregelt und es langweilt mich, hier zu sein. Manchmal fühle ich mich wie ein Hund, der seinen Schwanz jagt – hat er ihn erst einmal, weiß er gar nicht, was er damit anfangen soll. Ich suche ständig nach einem neuen Reiz, nach neuem Wissen und habe das Gefühl, immer dümmer zu werden – nach dem Motto ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘. Super verwirrend. Die Gesellschaft heutzutage wiegt sich im universalen Wissen und vergisst, wie wenig sie doch eigentlich weiß – und das, bei dem täglichen, schieren Input, den wir uns antun. Die Wahrheit unserer Umgebung liegt aber nicht in unseren Bildschirmen und auch wird unsere Ausstrahlung durch Handystrahlen nicht aussagekräftiger. Von allen Seiten kriegt man ungefragt Feedback. Jemandem bei seiner Optimierung zu helfen, ist heutzutage nämlich eine wahre Heldentat. Man kriegt einfach so viel Feedback, bis man nur noch das Abbild anderer Meinungen ist und das Selbstvertrauen zum Vertrauen fremder Meinungen wird“, wieder nahm ich einen tiefen Atemzug und war mittlerweile selbst etwas verwirrt, wieso ich überhaupt hier war. Vielleicht sollte ich einfach auch lieber ein Buch schreiben. Wenn es etwas gibt, das ich gelernt habe, dann ist es das, sich Ideen immer aufzuschreiben. Man denkt, man merkt sich die brillante Idee für eine Geschichte, aber die Wahrheit ist, dass Ideen so flüchtig sind wie Blicke in der U-Bahn. Kurz entflammt ein ganzes Universum an Möglichkeiten und bei der nächsten Haltestelle ist alles wieder vergessen. Dabei ist Vergessen die Essenz des Menschseins. Oder sind es doch die Erinnerungen? Ich überlegte, ob ich ihn nach seinen Notizen fragen sollte, immerhin waren das meine Gedanken und die würde ich für mein Buch brauchen.
“Ich sehe, Sie beschäftigen sich sehr mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen, aber auch mit Ihrer Vergangenheit. Vielleicht können Sie mehr auf den Zusammenhang der beiden Aspekte eingehen und das mit Ihrer Gefühlslage verbinden“, er zieht die Augenbrauen zusammen und ich kann seine Gedanken lesen: „Das wird wohl eine größere Baustelle.“
Ich schaute ihn an.
„Sind Sie nicht auch manchmal überfordert mit allem? Vielleicht ist das hier Ihre Leidenschaft, aber denken Sie nicht, dass vierzig Stunden die Woche oder sogar noch mehr einfach zu viel ist?“
Er warf mir einen verdutzten Blick zu. Vielleicht hatte er sich noch nie mit dieser Frage beschäftigt oder war einfach nicht daran gewöhnt, selbst Fragen beantworten zu müssen.
„Sie reflektieren Ihre Gefühle und scheinen vielleicht gerade einfach Probleme zu haben, sich an Ihren Alltag zu gewöhnen. Vielleicht können Sie mir in den kommenden Sitzungen mehr über die Beziehung zu Ihren Eltern erzählen.“
Meine Eltern. Ich würde nicht wiederkommen.
© Anna Radonic 2022-02-28
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