Verbrieft
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»Ich hatte mir immer gewünscht, der Zugang zu sein. Doch ich bin das Wegging geworden.«
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Meine vertrocknete Liebe,
ich wundere mich, dass ich Dir schreibe! Und Du, wunderst Du Dich auch? Ja?! Nein?! Beides wäre gleich gut oder gleich schlecht. Jedenfalls egal.
Und noch jedenfallsiger – falls es das Wort überhaupt geben darf – schüttle ich meinen Kopf über mich selbst, wie unbedingt ich Dir plötzlich aus einer Laune heraus schreiben will, wie überrascht ich gerade in diesem Augenblick bin, Dir zu schreiben, Dir einen Brief zu schreiben. Den, der längst fällig war.
Es ist nun schon längere Zeit vorbei, dass ich ununterbrochen an Dich hätte denken wollen; ich denke, das verstehst Du. Man kann ja wirklich nicht ewig in der Vergangenheit verweilen. Doch das Seltsame daran: Das Erinnern half dem Vergessen. Oder ist es womöglich umgekehrt: Das Vergessen hilft dem Erinnern?
Insgesamt war ich dabei ziemlich froh über die Herzens- und Seelenschmerzen – die großen und die kleinen, über die ich bis heute immer noch leide. Zum einen sind solche Schmerzen ja auch etwas Annehmenswertes, da sie nur im Bewusstsein, dass man noch lebt, erlebt werden können. Und andererseits: Gäbe es diesen Schmerz nicht, hätte ich Dich ja vergessen, und das wäre, wie eben geschrieben, wiederum dem Erinnern hilfreich.
Anfangs war die Erinnerung, sobald ich sie betrat, vollkommen leer. Doch sie füllte sich recht bald, mit Impressionen, mit Bildern, mit Gesichtern, mit Stätten aus vergangenen Zeiten. Regungen, Bewegungen, Begegnungen erzählten ungerufen Geschichten und verdichteten die Leere meines Raumes. Unendlich reflektierten sie im Spiegel in einen immer weiter in der Tiefe liegenden Raum in mir, bis sie in der Unendlichkeit zu einem einzigen Punkt verschmolzen - bis alles unscharf wurde, verschwamm.
Ist es nicht ein bescheuertes Unterfangen, diesem schwarzen Punkt etwas Farbiges, Buntes zu entlocken?! Selbst wenn im ersten Spiegel noch lebendige, vertraute, liebevolle Bilder erscheinen, wird der lange Blick von Spiegel zu Spiegel immer dunkler, immer schwächer, immer abgestumpfter. Du wurdest nicht mal mehr zur Erinnerung – wie oben geschrieben: Sie hilft dem Vergessen.
Und mit einem Mal, ohne eigenes Zutun, kommt dann jener Gedankenpunkt – beispielsweise kurz nach dem Frühstück während des Sitzens auf der Kloschüssel –, dass man tief ausschnauft; dann ist Ende, dann ist gut damit, weils eigentlich nie gut tat. Und von einer Minute zur anderen kommt man wieder zu sich, mit der Betonung auf „sich“; und erlebt auch schon mal die eine oder andere kleine Freude, bestellt sich in einem Café einen Milchkaffee oder schwingt sich aufs Fahrrad und lässt die Natur an seinen Augen und Ohren vorüberziehen, durch Nase und Mund reinziehen, auf der Haut spüren, oder gönnt sich hin und wieder vor dem Zubettgehen ein Gläschen Weißwein.
Meine letzten Gedanken an Dich:
Sei glücklich und gesund am Leben, sei liebevoll. Und sei gnädig wegen meiner Worte an Dich.
© Bernd Lange 2020-10-23
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