Brief an Moana
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Liebe Moana,
du wolltest es wissen. Hier der Bericht von meinem ersten letzten Tag.
Die Ankunft fand im Morgengrauen statt. Ich hatte meinen See endlich gefunden. Verborgen in den Wäldern in den Bergen.
Ich kam beladen. Mit all den ungesagten Sätzen meines Lebens. Die Sätze, die mir im Nachhinein eingefallen waren. Die, die gut gewesen wären, schlagfertig, klug, aufrecht. Die meine Selbstachtung wiederhergestellt hätten. „Ich wäre gern gefragt worden!“
Ich bündelte sie und schickte sie hinaus in den Äther. Vielleicht würden sie ihren Adressaten finden, die aus jüngster Zeit und einige vielleicht nach sehr, sehr langer Zeit.
Nach diesem Akt war ich frei und stieg in den See. Hinein in die ersten Lichtpunkte. Ich schwamm und schwamm, endlich, und löschte meinen Durst.
Mittags setzte ich mich auf einen Baumstamm, der weit in den See hineinragte, und blickte ins Wasser. Tiefer und tiefer. Und es ward bunter und bunter. Mein Leben war das, alles, was wichtig war. Stundenlang saß ich da und besah mir die Bilder.
Die Bilder gingen über in ein Sehnen. Ich berührte den Nordpol. Ich berührte den Südpol. Am Äquator umrundete ich die Erde. So nahm ich den ganzen Planeten in mich auf.
Als es Abend wurde, lernte ich die Sprache der Fische, der Vögel, der Tiere im Wald. Die Sprache der Elemente.
Die Nacht verbrachte ich damit, das Große Wörterbuch der Naturwesensprache zu schreiben. Ich schicke es Dir mit.
So endete mein erster letzter Tag.
Darauf folgte der zweite letzte Tag. Wie viele letzten Tage ich verbrachte, kann ich Dir nicht verraten. Auch nicht den Ort, von wo aus ich im Moment schreibe. Die letzten Tage hüten ihre Geheimnisse gut.
Liebe Grüße
Brigitte
© Brigitte Hieber 2021-07-07
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