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Das Geheimnis

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Das Geheimnis | story.one

ICH BIN EIN SCHNITZMESSER. 10 Jahre lag ich in ihren Händen. Setzte die ersten Schnitte in die Fundhölzer, die dann nach intensiver Bearbeitung zu Skulpturen wurden: zum „Eichengeflüster“, zur „Wasserträgerin“ oder gar zu Mini-Skulptürchen.

Auch auf den Kunstmärkten war ich dabei. Als Show-Act sozusagen. Sie führte ihre Arbeit dem Publikum vor. Den Kindern, die zuschauten, drückte sie ein Hölzchen und Schleifpapier in die Hand. Mich durften sie natürlich nicht halten. Die Eltern waren angetan. Oder skeptisch, es machte ja Dreck.

Soweit möglich, blendete sie das Außenherum ganz aus. Denn wir wollten beide nicht hören, wie Besucher an unserem Stand nach Essbarem Ausschau hielten oder die weiß gestrichenen Deko-Weinkisten attraktiv fanden.

Und manchmal gab sie Workshops. Teilnehmer fragten, wie sie bei dem Holz ansetzen sollten. Und jedes Mal sagte sie: „Das weiß ich nicht, gib mir das Messer, meine Hände wissen es, das ist das Geheimnis.“

ICH BIN EIN BLEISTIFT. 10 Jahre lang, jeden Tag stundenlang, glitt ich über das Papier der Notizbücher, die mit Spiralbindung, nur die mochte sie. Es war eine schwere Zeit. Ich gab mein Bestes, lag leicht und zuverlässig in ihrer rechten Hand. Als 20 Notizbücher voll waren, war alles gesagt. Sie trennte sich von ihnen, schaffte Raum. Irgendwann legte sie auch mich an die Seite, weil ein Computer Einzug hielt.

WIR SIND IHRE HÄNDE. Vom Schnitzen, Schreiben, Leben sind einige Finger vernarbt und verbogen, Gelenke sind verdickt, färben sich blau, die Handinnenflächen sind rot. Hände, wie auch ihre Mutter sie hatte: vom Bauen, Steine-Schleppen und Arbeiten. Hände, die aber auch malten, musizierten, strickten. Nie waren wir eitel, der Mutter fehlte auch noch der kleine Finger, das war beim Holzhacken passiert.

Als sie uns jedoch jahrelang in einem Büro tippen ließ, streikten wir. Wir wurden Ärzten vorgeführt. Der eine sammelte Fälle von Übergelenkigkeit und war fasziniert, der andere riet uns, nicht mehr zu arbeiten. Schließlich half ein Schamane. Doch es dauerte noch lange, bis wir das Sagen hatten. Inzwischen tragen wir auch ab und zu Ringe. Nur, kaltes Wasser scheuen wir immer noch.

MEINE HÄNDE lassen sich inspirieren, wollen ihre Geschichte schreiben. Und ich stelle fest, wie sehr ich meine Hände stets als gestaltend, als schöpferisch erlebt habe. Und wie sehr sich mir die Welt durch meine Hände erschließt: Es sind meine Hände, die begreifen.

Wenn ich in einem Laden bin, muss ich Dinge anfassen, sonst kaufe ich nichts – auch gut. Bücher muss ich anfassen, nie könnte ich ausschließlich papierlos lesen. Auch beim Streifen durch die Natur fasse ich beinahe alles an, was handhoch wächst. Blüten und Gräser gleiten mir durch die Finger, Rinde massiert meine Hände.

Bei anderen Menschen schaue ich gerne auf die Hände, habe vielleicht keinen Blick dafür, ob die Hände schön sind im landläufigen Sinne, sehe aber, ob sie etwas erzählen.

Hände, die nur aufs Handy eintippen, erzählen mir nichts.

© Brigitte Hieber 2020-08-31

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