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#refugium#immerderselbeweg#naturundkunst

Der Specht

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Der Specht | story.one

Anfang Mai 2020

Fast täglich gehen wir unseren Weg, meistens abends.

Fast immer hören wir einen Specht klopfen. Es fällt uns auf, wenn wir keinen hören.

Sobald wir den Wald betreten, klopft es. Das Klopfen ist wie eine Begrüßung. So erleben wir das.

Vielleicht fühlt sich der Specht aber durch uns gestört. So wie der Eichelhäher, der die Waldbewohner lautstark vor uns warnt. Vielleicht sucht der Specht einfach nur Futter, wie es seiner Natur entspricht. Baut seine Höhle aus. Will einem Weibchen imponieren, einen Rivalen vertreiben. Wie selbstverständlich gehen wir davon aus, dass es ein Er ist.

Ab und zu hören wir das vertraute Klopfen erst auf dem Rückweg. Wir sind beruhigt.

Selten, sehr selten hören wir gar kein Klopfen. Das ist so ungewöhnlich, dass wir uns sorgen, ob der Specht noch lebt. Oder uns fragen, ob wir ein bisschen früher oder später als üblich auf unserer Waldwegroute sind. Oder ob er mit seiner neuen Spechtfamilie beschäftigt ist. Oder ob er das Revier gewechselt hat. Tut ein Specht so etwas?

Ein Vogelkenner, besonders ein Spechtkenner, würde wahrscheinlich den Kopf schütteln, würde er unsere laienhaften Überlegungen mitanhören. Obwohl sich mein Mann in der Natur durchaus auskennt, sagt selbst er manchmal nur: „Hmm.“

Heute ist so ein Tag ohne Begrüßung. Kein Klopfen, als wir losgehen. Dafür sind eigentümliche Geräusche zu hören, als wir zu der Stelle kommen, wo wir uns regelmäßig länger aufhalten. Zu dem Zeitpunkt wissen wir noch nicht, dass es sich um „unseren“ Specht handelt.

Da schwirrt etwas aufgeregt quietschend durch die Luft. „Quietschen“ nenne ich es mangels besserer Wörter, denn von einem Vogel erwartet man kein Quietschen. Und es war unerwartet. Ein Ton, den ich so noch niemals gehört habe. Wir schauen nach oben. Soeben landet ein Vogel auf einem kahlen Ast, sodass wir ihn gut sehen können. Und er fängt an zu klopfen.

Da ist er ja. Der Specht. Unser Specht.

Doch bevor ich den Fotoapparat herausholen kann, nimmt er quietschend Reißaus und entkommt in die benachbarte Laubkrone.

Möglicherweise spielt er mit uns.

Möglicherweise kennt er uns.

Möglicherweise nimmt er Kontakt auf.

Möglicherweise wird er langsam zutraulich.

Möglicherweise begrüßt er uns wirklich.

„Ist das überhaupt immer derselbe?“, mögen Skeptiker einwenden.

„Spielt das eine Rolle?“, würden wir dagegenhalten.

© Brigitte Hieber 2020-05-08

naturerlebnis

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