Die Morgengrüßerin
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Bist du schon wach? Blinzelt ein Auge schon? Siehst du sie dort im ersten Morgenlicht am Fenster sitzen? Das ist die Morgengrüßerin. Natürlich sagt sie zuerst einmal: „Guten Morgen, Magdalena.“ Also bitte nicht erschrecken, wenn du ihre frische Stimme hörst. Denn das gehört sich ja, wenigstens „Guten Morgen“ zu sagen, wenn man so in ein Zimmer hineinschneit. Noch dazu frühmorgens. Die Morgengrüßerin freut sich riesig, dass du da bist, um mit ihr zusammen den neuen Morgen zu begrüßen. Denn ein neuer Morgen ist etwas ganz Kostbares. Das wisst ihr beide. Manchmal wachst du fröhlich und zuversichtlich auf, manchmal vielleicht traurig und verzagt.
Hörst du, Magdalena, was die Morgengrüßerin erzählt?
Also, jedem Morgen biete ich meinen Gruße dar. Dafür nehme ich mir viel Zeit, denn jeder Gruß wird neu geboren. So sage ich zum Beispiel: „Sei gegrüßt, Bote des Tages!“
Na ja, du denkst jetzt sicher, die Morgengrüßerin redet aber altmodisch daher. Oder?
Also, wenn ich gerade nicht so lyrisch, also gedichtmäßig, gelaunt bin, sage ich einfach: „Guten Morgen, Morgen!“ Allerdings kann ich auch richtig bühnenreif sprechen, wie eine Diva: „Wenn sich die Nacht im Dämmermantel davonschleicht, erscheinst du in rotem Gewand, Künder des Lichts.“ Klingt großartig, oder nicht?
Na ja, das findest du jetzt zu geschwollen. Oder?
Also, ich mache auch gerne einen Witz und sage: „Morgen, ahoi!“, als ob der Morgen ein Schiff wäre, das in See sticht. Oder ich reime: „Begrüße den Morgen, hält er sich auch noch so verborgen!“ Ich habe dem Morgen auch schon einen Brief geschrieben: „Lieber Morgen, als du heute Morgen an mein Fenster geklopft hast, war ich ganz baff, dass du schon da warst. Ich stürmte aus dem Bett und öffnete dir das Fenster. Mit nachträglichem Gruß, deine Morgengrüßerin.“ Und wenn ich es nicht aus dem Bett schaffe, schicke ich dem Morgen halt ein Telegramm: „Gruß. Stop. An den Morgen. Stop. Willkommen.“
Na ja, schreibst du eigentlich gern? Was macht dir am meisten Freude? Magst du Wolken, Wasser, Bäume, Wiesen, …?
Also, erzählt die Morgengrüßerin weiter, ich begrüße mit dem Morgen natürlich immer gerne die Jahreszeiten und das Wetter, alle Wetter. Dann sage ich: „Lieber Morgen, was für ein toller Regen!“ oder „Welch blauen Tag du bringst, guter Morgen!“ oder „Wirble, wirble, stürmischer Morgen, so wie die Blätter auch hinweg die Sorgen!“ oder „Geliebter Morgen, du deckst uns zu mit Schnee und weißer Zärtlichkeit.“
Jetzt hast du die Morgengrüßerin ein bisschen kennengelernt, Magdalena. Ich bin sicher, sie kann noch ganz viel von dir lernen. Dir fallen noch tausend schönere Morgengrüße ein.
Und weißt du, was das Schönste ist: Der Morgen wird ganz stolz sein auf deine Morgengrüße und er wird sie alle aufbewahren in seinem morgenhellen Morgengrüße-Buch. Und was noch toller ist: Wenn du mal lieber verschlafen willst, findet er das völlig in Ordnung. Denn der Morgen ist ein ganz prima Bursche. Richtig cool!
© Brigitte Hieber 2020-12-19
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