Die Schwälbin des Nordens
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Es gibt Menschen, die den Norden lieben. Ich gehöre dazu. Seit ich denken konnte. Zu denen, die im Winter bei Eiseskälte und Nebel im Wohnwagen vor Wilhelmshaven hockten, mit Blick auf blinkende Bohrtürme und Werften. In jener Zeit fiel übrigens die Mauer! Zu denen, die im Schneetreiben beim Osterfeuer auf der Insel Juist ausharrten. Und die trotz flirrender Hitze und zuverlässigem Gegenwind immer weiter-radelten. Und in diesem Herbst 2022? Starkregen in Butjadingen.
Solltest du je einen der folgenden Sätze vernehmen:
„Dat is der Vorteil hier bei uns im flachen Land, dass es keine Berge gibt, nich?“
„Bald sind die Maisfelder abgeerntet. Dann haben wir hier endlich wieder freie Sicht!“,
dann wüsstest du, du bist angekommen, im sturmgepeitschten, windschiefen Land hinter dem Deich, vom Wattenmeer aus gesehen. Im Land der Glaubensgemeinschaft buddhistischer Kühe und der Gemeinde der ungläubigen Schafe. Wo im Regen die schlanken Pferde wie zu Standbildern erstarrte begossene Pudel aussahen. Wo fotogene schwarzweiße und milchschokoladenbraune Kühe sich freundlich kauend von dir fotografieren ließen und dabei eine buddhistische Gelassenheit ausstrahlten. Im Gegensatz zu den Schafen auf den Deichen, die blökend auseinanderstoben und nur eins verstanden, nämlich, dass du die Gatter geöffnet hattest, einzig und allein, um ihre Ruhe zu stören, und die dabei immer einen Ausdruck von Ungläubigkeit im Gesicht trugen.
Diese schafgetupfte Deichlinie
trennte und verband auf hunderten von Kilometern wie eine bewegliche Perlenschnur zwei Lebensräume: das Wattenmeer, das heldenhafte Land der Groden und Salzwiesen vor dem Deich, und das von Einheimischen und charakterstarken Tieren bewohnte Land hinter dem Deich.
Bevölkert wurde das Deichgrenzland zudem vom Schwalbenballett, mit täglich zu bewundernden, chaotisch anmutenden Darbietungen. Ein Ballett ohne Choreographie, aber mit Sinnhaftigkeit. Denn dort begegnete ich ihr zum ersten Mal, der Schwälbin des Nordens:
***** Sie ist eine Künderin. Eine Künderin von Anfängen. Von Anfängen, die einen neuen Kreislauf eröffnen. Doch nicht im Kreise bewegt sie sich, auch wenn sie Jahr für Jahr aufs Neue den Anfang verkündet. Nicht in einer geraden Linie bewegt sie sich, auch wenn sie vom Anfang der Zeiten bis in die Unendlichkeit fliegt und wieder zurück.
Sie ist die Meisterin des Zick-Zack. Webt ihre Kunst in das Blau des Himmels, über das Braun der Äcker, entlang des Grüns der Deiche.
Kein Auge kann ihrem Kurs folgen. Wer allerdings genau hinhört, kann in ihrem zwirbelnd-schnarrenden Gesang ein paar Worte erhaschen…„nichterwischenerwischenwirstdumichversuchesnicht“
…und ein Zipfelchen vom geheimnisvollen Band der Zeit. *****
© Brigitte Hieber 2022-11-18
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