Die stille Zeit
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August – September 2020
Ich mochte diese stille Zeit nie. Damit meine ich nicht jene Zeit zwischen den Jahren, die eine eigene Qualität hat, eine Stille, die Balsam für mich ist. Nein, ich spreche von der stillen Zeit im August, wenn der Wald verstummt.
Natürlich, die ersten Vögel haben sich aufgemacht zu ihrem langen Flug. Für die hiergebliebenen sind Brautwerbung und Brutzeit vorüber und auf den Feldern außerhalb des Waldes finden sie bestimmt mehr Nahrung. Selbst das Krächzen und Zetern der Rabenvögel scheint abzunehmen. Seit Anfang September beobachte ich, wie sie sich auf den Stromleitungen zu schwarzen Schnüren sammeln, wie Neuankömmlinge mit atemberaubender Sicherheit beim Anflug just die Lücke erspähen, in der sie landen können.
Ich mochte diese stille Zeit nie. Sie ist ohne klaren Anfang, ohne klares Ende. Der Wald wirkt tot. Fahl die Farben. Kein frisches Grün in der monoton dunkelgrünen Wand.
Doch dieses Jahr ist es anders. Wir waren zum Rückzug gezwungen, der abendliche Weg wurde zum sicheren Boden in einer unsicheren Zeit.
Sicher, es ist still im Wald. Doppelt still, da auch das nahe Dröhnen der Erntemaschinen entfällt. Dreifach still, da nicht durch unsere Urlaubsaktivität überlagert, durch eine mehrwöchige Radtour, wo es uns jeden Tag weiterzieht, mit ständig neuen Zielen vor Augen. Wir stellen uns der Stille des Waldes.
Dieses Jahr ist es anders. Wir sind aufmerksamer geworden.
Hören genauer hin. Heute macht sich ein langgezogenes Zirpen breit, macht sich vordergründig. Darüber hüpfen noch vereinzelte, voneinander unterscheidbare Vogelstimmen.
„Kein Vogel-, dafür ein Grillenkonzert“, sage ich.
Du hörst es nicht. Erst nach mehreren Versuchen, wobei du wie bei einer Kippfigur zwischen den Vogelstimmen und den Grillen hin- und herschaltest. Kippklang.
„Es sind Grashüpfer“, sagst du.
Auch die Farben erfordern einen zweiten Blick. Sicher, es gibt keine frischen Blattknospen mehr. Dafür besticht die zweite Distelgeneration mit kräftiggrünen Büscheln.
Wir sehen mannigfache Graubraunweißschattierungen an vertrockneten Kelchen und Kapseln, die ihr Gepfluder und Gekringel entlassen. Mit diesen eigenwilligen Gebilden behängen wir die Bäume: „Stille Zeit“.
Der laute Ruf eines Greifvogels begleitet uns hinaus aus dem Wald. Und in den Ohren pfeift der Wind. Nur die Wolkenschichten verschieben sich – scheinbar – lautlos gegeneinander.
Ein beißender Geruch steigt uns in die Nase. Das Zwiebelfeld am Weg ist frisch abgeerntet.
Diese stille Zeit – eine Zeit der Sinne.
© Brigitte Hieber 2020-09-13
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