Eine kleine Aktion am Rande
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Ich folge der Kleeblattspur. Das ist nicht so einfach, wie man denken könnte. Denn ich muss mit den Füßen zwischen die aufgereihten Kleeblätter treten, ohne eins zu berühren. Da ist nicht viel Platz dazwischen. Ich muss auf Zehenspitzen gehen. Dabei höllisch aufpassen, dass ich nicht nach rechts oder links abrutsche, da ich ja auf einem Baumstamm balanciere. Ja, so sieht es aus: Die Kleeblätter sind auf einem alten, fast entrindeten Stamm, der am Boden liegt, in einer Reihe hintereinander platziert. Also, ich habe das gemacht. Und jetzt muss ich da drüber.
Nun könnte ein Vorbeigehender einwenden, es sei nicht schlimm, wenn ich nach rechts oder links abrutschen würde, da mein Balancierakt ja nur etwa 10 cm über dem Boden stattfände.
Das ist richtig, aber rechts und links ist Matsch, der Stamm liegt quasi quer drüber. Und der Matsch geht auf der rechten Seite in ein Wasserloch über. Eins mit schmutzigbraunem Wasser. Es könnte sogar sein, dass es sich gar nicht um ein Wasserloch handelt, sondern um einen Fluss, die Lein, genauer gesagt, den Fluss, der unsere Region talwärts prägt. Oder es ist ein Seitenarm der Lein oder einfach ein stehendes Gewässer, das die Lein hier liegen gelassen, also vergessen, hat. Dies alles liefert infolgedessen gute Gründe, dass ich vorsichtig drüber gehen muss, über den Stamm, zwischen den Kleeblättern.
Nun könnte dieser Vorbeigehende auf die Idee kommen zu sagen, es sei des Weiteren nicht schlimm, wenn ich auf die Kleeblätter drauftreten würde, das seien doch nur aufgelesene Blätter, die würden nicht lang überleben.
Das stimmt. Aber sie sind schließlich etwas Lebendiges und da trete ich nicht drauf. Und außerdem handelt es sich hier um Kunst, um sogenannte Land-Art, der ich den Titel gegeben habe: “Die Kleeblattspur — oder: Kleeblätter, aufgereiht auf einem Baumstamm im Wald am Wasser.” Und mein Balancierakt gehört zu dem Kunstwerk wesentlich dazu!
Nun könnte es sein, dass dieser Vorbeigehende noch immer nicht zufriedengestellt wäre und vielleicht sogar zu recht zu bedenken geben könnte, dass ich von meiner üblichen Vorgehensweise abweichen würde, die er schon vielerorts habe beobachten können. Ich hätte doch einfach wie immer Land-Art machen und sie fotografieren können. Wozu dieser aufwändige und fast unmöglich durchzuführende draufgängerische Balancierakt?
Durchaus hätte ich das wie immer machen können. Aber ich wollte wissen, wie es ist, einer Kleeblattspur zu folgen. Soweit ich weiß, hat das hier an dieser Stelle und so auf diese Art noch nie ein Mensch vor mir je gemacht!
Nun könnte der Vorbeigehende kopfschüttelnd vorbeigehen.
Er könnte aber auch mit mir zusammen zu balancieren versuchen.
Na also!
© Brigitte Hieber 2021-04-27
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